Auch bei anderen Aspekten entwickelten sich westliche und andere Länder deutlich auseinander: Während Menschen in Australien und Pakistan zum Beispiel vor Jahrzehnten Scheidungen gleichermaßen für nicht vertretbar hielten, haben sich ihre Ansichten in entgegengesetzte Richtungen entwickelt, wie Jackson und Medvedev erläutern. Eine ähnliche Entwicklung habe es beim Wert des Gehorsams von Kindern gegeben.
Wohlstand bringt nicht automatisch Angleichung
Die Entwicklung von Wohlstand bedeute nicht automatisch eine Angleichung von Werten, so die Forschenden. Er sei beispielsweise in Hongkong und Kanada zwischen 2000 und 2020 ähnlich gestiegen, die Akzeptanz von Homosexualität habe aber in Kanada schneller zugenommen. Auf hohe Leistungsbereitschaft von Kindern werde in Kanada inzwischen weniger, in Hongkong hingegen deutlich mehr Wert gelegt.
Zwar sehe er Einschränkungen bei der Vergleichbarkeit der Messbedingungen in den einzelnen Ländern, sagte Verwiebe, Professor für Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit. "Gleichzeitig ist aufgrund der Verwendung von sehr vielen Datenpunkten von einer sehr hohen Robustheit der Ergebnisse auszugehen, und die berichteten Trends der weltweiten Divergenz von Werten halte ich für sehr plausibel." Es hätten sich neue Spaltungslinien zwischen westlich geprägten, sehr wohlhabenden europäischen Ländern einerseits und asiatischen und afrikanischen Staaten andererseits herausgebildet.
Liberale Demokratien zunehmend in der Defensive
Zudem gebe es eine weitere wesentliche Entwicklung: "Die liberalen Demokratien europäischer Prägung befinden sich weltweit zunehmend in der Defensive; in Teilen nimmt ihre Akzeptanz auch in stark demokratisch geprägten Gesellschaften deutlich ab, etwa in den Niederlanden, Frankreich, den USA und Deutschland." Die Demokratie beruhe auf dem Ausverhandeln von Interessendifferenzen, auf Akzeptanz von Meinungsunterschieden. "Ist die Demokratie auf dem Rückzug, nimmt die Intoleranz zu."
Auch Constanze Beierlein von der Hochschule Hamm-Lippstadt erklärte, es sei weltweit zu sehen, dass Demokratien als Ausdruck emanzipatorischer Werte unter Druck geraten und dass auch in Europa autoritäre Einstellungen und Parteien Zulauf finden, in Deutschland etwa die AfD. "Wir haben bereits erlebt, dass sich europäische Länder, wie beispielsweise Ungarn, dann politisch umorientieren und auch den Kontakt zu anderen autoritären Regimen ausbauen."
Wenn Werte wie nationale Sicherheit und Dominanz gegenüber anderen Ländern im Mittelpunkt politischen Handelns stünden, habe das auch direkte Auswirkungen auf Deutschland, so Beierlein, Leiterin des Lehrgebiets Kulturvergleichende Sozialpsychologie und Diagnostik und selbst nicht an der aktuellen Studie beteiligt. Etwa wenn es um Ziele wie Friedenssicherung, Umweltschutz und Menschenrechte gehe, die nur gemeinsam zu erreichen seien.