Ex-Domspatz: "Klar, es gab Ohrfeigen"

Der Pegnitzer Allgemeinarzt Dr. Johannes Havla spricht über seine Zeit bei den Regensburger Domspatzen. Foto: Ralf Münch Foto: red

Seine gesamte Gymnasialzeit hat der Pegnitzer Arzt Johannes Havla im Internat der Regensburger Domspatzen verbracht. Im Kurier-Interview spricht er über die Vorwürfe der körperlichen Misshandlungen und sexueller Übergriffe und darüber, wie er die Zeit in dem berühmten Internat erlebt hat.

 
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Herr Havla, wie haben Sie reagiert, als Sie von den Vorwürfen der sexuellen und körperlichen Misshandlungen an Ihrer ehemaligen Schule erfahren haben?

Johannes Havla: Die ersten Vorwürfe sind ja schon seit 2008 publik. Das ist schon schockierend, wenn man da seine ganze Schulzeit und Jugend glücklich verbracht hat, und von diesen Geschehnissen hört, die sich da wohl ereignet haben.

Sie selbst wurden als Domspatz also nicht Opfer von köperlicher oder sexueller Gewalt?

Havla: Nein. Ich war von 1987 bis '96 dort, in der Zeit habe ich nichts mitbekommen von sexuellem Missbrauch. Es gab in den 70er Jahren wohl mal einen Präfekten, also einen Erzieher, der deswegen auch rechtskräftig verurteilt wurde. Aber das war lange vor unserer Zeit. Das haben wir als Schüler auch gar nicht gewusst. Das habe ich erst 2008 erfahren.

Hatten Ihre Eltern vorher etwas davon mitbekommen?

Havla: Nein. Ich rede permanent mit meinen Eltern darüber. Ich habe noch zwei Brüder, die waren auch bei den Domspatzen, auch bei denen war nichts.

Es gibt neben den Vorwürfen bezüglich des sexuellen Missbrauchs auch das Thema der körperlichen Gewalt. Wie haben Sie das erlebt?

Havla: Klar, Ohrfeigen hat es gegeben. Aber es gab keine Gewaltexzesse oder Prügelstrafen. Das kann ich aus meiner Zeit nicht berichten. Ich will das nicht verharmlosen, es ist eine Katastrophe, wenn Kinder geschlagen werden. Aber wenn man eine Umfrage machen würde, wer 1964 in Deutschland an seiner Schule geprügelt worden ist, dann möchte ich mal wissen, wie viele da „ja“ sagen. Das war in den 60er, 70er Jahren doch fast an jeder Schule gegeben. Ich habe heute noch Kontakt zu etwa 20 ehemaligen Mitschülern aus der Abiturklasse, von denen hat keiner körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt. Andererseits gibt es die Berichte und davon ziemlich viele. Und das ist schon glaubhaft.

Haben Sie in Ihrer Zeit als Domspatz auch mal Ohrfeigen bekommen?

Havla: Ich selbst bin nie geschlagen worden, aber ich war auch ein braver Schüler, mehr ein Streber. Ich habe einmal einen Verweis bekommen, weil ich den Sport geschwänzt habe. Da waren Bundesjugendspiele, ich hatte keinen Bock drauf und bin nicht hingegangen. Wenn mir das hier in Pegnitz passiert wäre, hätte ich von meinem Vater bestimmt eine Ohrfeige bekommen. Ich glaube, dass viele, die damals eine Ohrfeige bekommen haben, die auch zuhause von den Eltern bekommen hätten. Nicht, dass ich das gut finde.

Besonders im Fokus steht Georg Ratzinger, der Bruder des ehemaligen Papstes. Wie haben Sie ihn in Erinnerung?

Havla: Von Georg Ratzinger wurden wir niemals geschlagen. Er steht derzeit in einem sehr ungünstigen Licht, aber ich kann das nicht bestätigen. Der Ratzinger ist nie gewalttätig geworden uns gegenüber. Ich war bei ihm im Chor. Wir haben ihn geliebt, wir haben ihn vergöttert. Er hat jeden Nachmittag um 16 Uhr Bonbons an uns verteilt. Das war für uns ein lieber, netter Opa. Ich finde, der Ratzinger kommt extrem schlecht weg. Ich würde mich festlegen: Aus meinem Umfeld ist niemand von ihm geschlagen worden. Ich war Klassensprecher und Schülersprecher, ich habe also schon ein bisschen was mitbekommen.

In welchen Situationen wurden denn Schüler geschlagen?

Havla: Wenn es Ohrfeigen gab, dann im Internatsbereich. Das war ein strenges Regiment. Wenn man da 50 Jungen hat, die auch Blödsinn machen, zum Beispiel mit Essen im Speisesaal um sich werfen – da gab es schon mal eine Ohrfeige.

Wie schätzen Sie diese Maßregelungen ein?

Havla: Ich sehe das aus zwei Perspektiven: Als kleiner Domspatz, als Zehnjähriger, habe ich das nicht als Misshandlung empfunden. Wenn ein Mitschüler eine Ohrfeige bekommen hat, habe ich gedacht: „Ja, geschieht ihm recht.“ Jetzt im Nachhinein, wenn ich an meinen siebenjährigen Sohn denke... Wenn ich den nach Regensburg zu den Domspatzen schicke und ich höre, dass er eine Ohrfeige bekommt, dann wäre aber was los! Ich bin absolut strikt dagegen, dass die mein Kind schlagen.

Wo ist für Sie persönlich die Grenze zwischen einer für die damalige Zeit üblichen Züchtigung und einer körperlichen Misshandlung oder Gewalt?

Havla: Das ist eine ganz schwere Frage. Ich halte nichts von körperlicher Gewalt jeder Form. Eine Misshandlung oder ein Missbrauch fängt immer da an, wenn der Täter einen Lustgewinn daraus hat. Wenn er Lust daran hat, mir an den Hintern zu fassen oder mir Gewalt zuzufügen. Wenn er Spaß daran hat, mich zu erniedrigen oder mich leiden zu sehen. Wenn sich ein Erzieher mächtig fühlt. Wenn er sagt: „Ich hau' dir eine rein, damit du Ehrfurcht vor mir hast.“

Also haben Sie Verständnis dafür, wenn einem Präfekten die Hand ausrutscht, weil eine Situation eskaliert?

Havla: In der Struktur mit einem Erzieher und 50 Jugendlichen ist die Versuchung, eine Ohrfeige zu geben, wahrscheinlich schon eher da als im Familienkreis. Die Belastung bei den Erziehern ist ein Problem. Ich kann das schon irgendwie nachvollziehen. Übrigens: Körperliche Züchtigung ist im familiären Bereich erst seit 2000 verboten, in bayerischen Schulen seit 1983. Vorher war es erlaubt, es war legal. Das finde ich Wahnsinn.

Haben die Vorwürfe der ehemaligen Domspatzen Ihr Bild vom und Ihre Beziehung zu Ihrem ehemaligen Internat verändert?

Havla: Es tut mir schon weh, zu sehen, was da alles kaputt gegangen ist. Man bekommt ja den Eindruck, dass wir reihenweise vergewaltigt und geschlagen worden sind. Der Imageverlust für die Domspatzen ist Wahnsinn, ich glaube sogar existenziell für das Internat. Und es gibt eine Sache, die ich für mich bisher nicht gelöst habe: Wenn ich als Kind bei den Domspatzen bin und ich werde da körperlich oder sexuell misshandelt oder missbraucht, warum rufe ich nicht meine Mutter an und sage es ihr? Das sind alles Kinder, die Eltern haben und die am Wochenende zu Hause sind. Ich hoffe nur, dass wenn mein Sohn so etwas erleben würde, dass er auf mich zukommen würde. Auch wenn er vorher eingeschüchtert wurde. Ich finde das merkwürdig, dass man nach 30 Jahren an die Öffentlichkeit geht. Ich frage mich: warum jetzt erst?

Würden Sie Ihren Sohn zu den Regensburger Domspatzen schicken?

Havla: Ja.

Wie hat die Zeit bei den Domspatzen Ihr Leben geprägt?

Havla: Ich habe schon immer sehr viel Musik gemacht. Ich bin heute in drei Chören aktiv, mache nach wie vor mindestens zwei Abende in der Woche Chormusik. Das Erleben von Gemeinschaft war für mich toll: dass man nicht nur die Schule, sondern auch die Freizeit miteinander verbringt.

Was wünschen Sie sich für die Domspatzen?

Havla: Ich würde mir wünschen, dass die Ehemaligen, die da eine glückliche Kindheit hatten, das deutlich machen und sagen: Es war eine tolle Zeit, wir wurden nicht missbraucht und haben keine körperlichen Übergriffe erlebt. Dass es bedauerliche Schicksale gibt, aber dass kein System der Gewalt dahintersteckt. Für mich sind die Ehemaligen viel zu stumm. Es ist aber auch wichtig, dass nichts übertüncht wird. Es muss schnell aufgearbeitet und die Schuldigen bestraft werden. Ich wünsche mir aber auch eine gewisse Fairness. Man hat den Eindruck, als sei in ganz Deutschland nur bei den Domspatzen geohrfeigt worden. Und das finde ich nicht nicht Ordnung.

Das Gespräch führte Andrea Pauly

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