Dialekt-Comik mit bedrückendem Inhalt Eine Flucht, die nahegeht

Uschi Geiger

Christl Schemm übersetzt einen Comic über die Geschichte der jüdischen Familie Jusuran ins Sechsämterische. Dadurch wirken die Ereignisse aus der Nazidiktatur, als wären sie in der Nachbarschaft geschehen.

 
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Wie soll die Geschichte des Holocausts in Zukunft erzählt werden, wenn es keine Überlebenden und Zeitzeugen mehr gibt? Wer sorgt dafür, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten nicht in Vergessenheit geraten und ihre menschenverachtende Ideologie nicht wieder erstarkt? Angesichts der erschreckenden Zunahme von antisemitischen Straftaten sowie Hass und Hetze in den sozialen Medien und mittlerweile sogar in deutschen Parlamenten sind das drängende Fragen. Eine ganz unkonventionelle Antwort darauf gibt der Comic „Jesuran“, den der Illustrator Alex Mages nach den Recherchen von Schülerinnen und Schülern des Dürer-Gymnasiums in Nürnberg geschaffen hat. Als Herausgeber zeichnet die Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit verantwortlich. Erzählt wird darin das Schicksal der jüdischen Familie Jesuran, die 1933 vor den Nationalsozialisten nach Belgien floh. Eine ganz spezielle Version der Geschichte gab es nun in Arzberg: Christl „Muck“ Schemm hat die Comic-Texte in den nordbairischen Dialekt übertragen und stellte das Ergebnis in einer Lesung im neuen Bürgerhaus vor.

Erinnerung in Comicform

Zahlreiche Kooperationspartner unterstützten die drei Veranstalter Katholische Erwachsenenbildung Wunsiedel (KEB), „Runder Tisch für Demokratie und Toleranz Arzberg“ und die Projektstelle gegen Rechtsextremismus (Bereich „Demokratie leben“) am Evangelischen Bildungszentrum (EBZ) Bad Alexandersbad: von den Kirchengemeinden beider Konfessionen über Awo und DGB bis zu den politischen Parteien SPD, CSU und UPW.

Johannes Geiger von der KEB, Ulrich Frey vom „Runden Tisch“ und Matthias Dollinger vom EBZ umrissen in ihren Grußworten das langjährige gesellschaftspolitische Engagement ihrer jeweiligen Institution und natürlich die Entstehungsgeschichte des Comics: Mit einem Besuch Alain Jesurans habe alles angefangen, erläuterte Frey. Der belgische Arzt habe im Jahr 2017 das Haus seiner Großeltern in der Volprechtstraße in Nürnberg anschauen wollen und rasch guten Kontakt zu den jetzigen Besitzern, den Drozaks, gefunden. Jean François Drozak, Theaterpädagoge am Dürer-Gymnasium, habe die Gelegenheit ergriffen, in einem schulischen Projekt die Familiengeschichte der Jesurans zu rekonstruieren. Die Übertragung des Comics in verschiedene Sprachen und Dialekte – es gebe unter anderem bereits Versionen in Tirschenreuther und Hofer Mundart – berühre den Leser noch viel unmittelbarer: „Wer Dialekt spricht, ist gefühlsmäßig einer von uns!“, so Dollinger.

Thema aktueller denn je

Dann hatte Christl Schemm das Wort, und zwar das „nordbairische“: Als lebenslange Dialektsprecherin („Dialektsprechen hat noch nie jemandem geschadet!“) habe sie sofort Ja gesagt, als sie um die Übertragung ins „Sechsämterische“ gebeten worden sei. Zumal das Thema Flucht und Vertreibung aktueller sei denn je. Und so brachte Schemm die jüdische Familie Jesuran den Zuhörern so nahe, als seien sie tatsächlich unsere Nachbarn gewesen: „Söllt ma uns am End a Mietshaus kaafm?“, fragt Joseph seine Frau Bella, als sie sich mit ihrer Textilmanufaktur in Nürnberg etabliert haben und Platz für die wachsende Familie brauchen. Das geräumige Gebäude in der Volprechtstraße wird ihr neues Zuhause: „Daou, Kinner, werma öitz wohna!“ Die Freude währt allerdings nicht lange: Von Tag zu Tag werden die Nazis stärker, hetzen erfolgreich vor allem gegen jüdische Geschäftsleute. Als am Eingang zum Park das Schild „Betreten für Hunde und Juden verboten“ auftaucht, wird den Jesurans schmerzhaft klar, dass sie in Gefahr sind. „Mir sölltn furtgäih und as Haus vakaafn!“ Weit unter Wert muss Joseph das 1933 tun, reist zunächst alleine nach Belgien und bereitet in Brüssel alles für die Ankunft seiner Familie vor. Tatsächlich gelingt Bella mit den drei Söhnen, der kleinste von ihnen ist erst ein Jahr alt, später der Grenzübertritt. „Daou sets ja! Ich bin oich erleichtert!“ – „Und ich äijerscht!“ Obwohl Palästina, die nächste Etappe der Flucht, ein sicherer Aufenthaltsort wäre, wird Joseph dort durch die schwere Arbeit – er hilft bei der Trockenlegung von Sümpfen – so krank, dass die Familie nach Belgien zurückkehrt, wo die Nazis mittlerweile ebenfalls die Macht übernommen haben. Eine alte Frau versteckt die Jesurans in ihrem Erdkeller, wohl wissend, dass sie sich damit selbst großer Gefahr aussetzt. Während Sohn Julius sich bei der Sammelstelle für Juden meldet, um damit von der Familie abzulenken, und der Kleinste, Simon, unter falschem Namen in einem Internat versteckt wird, tritt der mittlere Sohn Ismar der belgischen Résistance bei. Er erfährt es als Erster: „Die Allierten hom Frankreich befreit. Die Truppn, waou in Frankreich glandt sen, kumma aaf Belgien zou. Die Engländer stenga vor da Tür!“ Die Familie Jesuran hat den Nazi-Terror überlebt, alle, bis auf Julius: Er starb in Auschwitz.

Ein Sohn starb in Auschwitz

Den Mundart-Comic gab es an diesem Abend als gebundenes Büchlein für alle Zuhörer umsonst, denn er ist als „Wanderbuch“ konzipiert. Das heißt „Lesen, vorne seinen Namen eintragen und weitergeben“, fordert Ulrich Frey am Schluss die Anwesenden auf. Möglichst vielen solle die Geschichte der Jesurans nahegehen. Dass dies bei der Lesung der Fall war, war auch das Verdienst von Karin und Thomas Pitzl, die mit einfühlsamer Gitarrenmusik immer wieder zum Innehalten einluden.

Verbunden mit der Lesung war auch eine Ausstellung in Gestalt zahlreicher Roll-ups, die ebenfalls das Schicksal der Familie Jesuran thematisieren, ergänzt durch eine Zeitleiste, um dem Betrachter die Einordnung in die geschichtlichen Ereignisse jener Zeit zu erleichtern.

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