Der etwas andere Kindergarten

Von Andrea Pauly
Im integrativen Kindergarten in der Erlanger Straße spielen behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam. Ihre Erzieher fördern sie dabei individuell. Von links: Aaron, Berufspraktikantin Kathrin Meier, Obehi, Erzieherin Stefani Nickl, Jona, Stella und Melek mit Kita-Leiterin Sylvia Jahn. Foto: Andrea Pauly Foto: red

Bayreuth, 1971: Ein Elternpaar möchte, dass sein Kind mit Muskelschwund im gleichen Kindergarten lernt und spielt wie das Geschwisterkind. Erzieher und der Leiter überlegen nicht lange und entscheiden: "Wir werden das schon schaffen". Sie nehmen das Kind im Rollstuhl auf. "Wir waren so naiv", erinnert sich Jochen Fähler, langjähriger Pfarrer und Mitgründer des Kindergartens in der Erlanger Straße. Vielleicht waren sie naiv. Aber sie waren mutig. Und sie waren Vorreiter.

 
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Das Ehepaar Jochen und Ursula Fähler und einige andere Eltern hatten ein Jahr vorher einen eigenen Kindergarten gegründet. "Wir kamen 1970 hierher und brachten drei Kinder mit", sagt Jochen Fähler.  Die bestehenden Bayreuther Angebote waren ihnen zu konservativ. "Es gab damals in Berlin wilde Sachen." Dort gab es Kinderläden, in denen die Eltern ihren Kindern mehr Freiraum ließen. Sie taten sich mit Eltern zusammen, die ebenfalls von einer anderen Art der Kinderbetreuung träumten. "Mit sechs Kindern haben wir angefangen", erinnert sich der 76-Jährige. 

Seit 25 Jahren als integrativ anerkannt

Der Kindergarten besteht bis heute, noch immer ist die evangelisch-reformierte Kirchengemeinde sein Träger. In diesem Jahr feiert er Jubiläum: Vor 25 Jahren wurde er als integrativ anerkannt. Faktisch betreuen die Erzieher dort aber bereits seit 45 Jahren auch Jungen und Mädchen mit Behinderung -- denn das Kind mit Muskelschwund war das erste von unzähligen weiteren: "Mit ihm ging es ganz gut", sagt Fähler. "Dadurch haben wir gemerkt, dass beide Seiten profitieren."

Pfarrer i.R. Jochen Fähler. Foto: Andrea Pauly

 

"Wir sind auch mal gescheitert"

Seit 1971 haben Pfarrer und Mitarbeiter nie daran gezweifelt, dass Jungen und Mädchen mit und ohne Behinderung gemeinsam aufwachsen sollten. Aber es lief nicht immer alles glatt: "Wir haben viel Lehrgeld gezahlt und sind auch mal gescheitert", sagt Fähler. Bei einem Kind hatte das Team damals angenommen, es fehle ihm nur an Liebe - dabei war das Kind autistisch, wie später klar wurde. "Wir dachten, wir können das. Wir waren heilfroh, als die Familie weggezogen ist. In den 70er Jahren kannten wir den Ausdruck Autismus gar nicht."

Montessori für gemeinsames Lernen

Im Lauf der Jahre wurde die Betreuung immer professioneller. Mit der Anerkennung folgten auch die Standards, Personalschlüssel und Ausbildungsvorgaben, die in allen anderen Kindergärten gelten. Heute besuchen 17 Kinder den Kindergarten der evangelisch-reformierten Kirche, fünf davon mit Behinderungen. Die Einrichtung arbeitet nach der Montessori-Methode. "Das ist ganz toll für behinderte und Regelkinder", sagt Kindergartenleiterin Sylvia Jahn. "Es gibt keinen Leistungsvergleich." Und jedes Montessori-Lernspielzeug ist so entwickelt, dass ein Kind selbst merkt, ob es alles richtig gemacht hat.

Keine Scheu vor Behinderungen

Eins hat sich in all den Jahren nicht geändert:  "Die Kinder hatten kein Problem und keine Berührungsängste mit Behinderung", sagt Jochen Fähler. "Das hat uns sehr beeindruckt." Sylvia Jahn hat die gleiche Erfahrung gemacht: "Kindern im Kindergartenalter fällt gar nicht auf, dass jemand behindert ist. Sie kennen es von sich selbst, dass sie noch nicht alles können oder dass sie manchmal wütend sind." Wenn etwas auffalle, dann die körperlichen Andersheiten: "Wir hören öfter mal: 'Der läuft aber komisch'. Aber dann ist das eben so. Mit dieser Antwort sind die Kinder auch zufrieden." Die Kleinen hätten oft mehr Geduld als die Erwachsenen, wenn ein anderes Kind verhaltensauffällig sei. Jungen und Mädchen mit Down-Syndrom hätten sogar eine besondere Empathie, sagt Jahn. "Sie erkennen sofort, wenn jemand traurig ist."

Anfangs waren Eltern auch Betreuer

Schon von Beginn an gab es in dem Kindergarten Elterndienste, die Mütter und Väter übernahmen einen Teil der Betreuung. Anfangs ging es nicht ohne sie. "Über Versicherungsfragen zum Beispiel hat man sich damals keine Sorgen gemacht", sagt Fähler. Da hat eine Mutter einen VW-Bus mit Kindern vollgeladen und ist ins Grüne gefahren." Heute ist das undenkbar.

 

Pfarrer Jochen Froben. Foto: Andrea Pauly

 

Die Kinder in einer anderen Situation erleben

Die früher elementaren Elterndienste sind mittlerweile eine freiwillige Sache, die jedoch die meisten Eltern gerne nutzen, sagt Sylvia Hahn. Auch Simon Froben, seit 2005 Pfarrer der Gemeinde, hat  seine Kinder im Kindergarten mitbetreut und sie dadurch in einer anderen Situation erlebt als zuhause.

Aus der wilden Zeit ist eine gute Zeit geworden

Seit langem gelten für den Kindergarten die gleichen gesetzlichen Vorgaben, der gleiche Personalschlüssel und die gleiche Finanzierung wie für jeden anderen auch. "Es gibt Schulungen und Förderung. Das ist toll. Aber bis hin in die Abrechnung und die Verwaltung ist auch vieles übergeregelt", sagt Simon Froben. "Aus der wilden Zeit ist eine Zeit geworden, in der es auch viel Gutes gibt."

Hier geht's zur Internetseite des Kindergartens.

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