Das Ukraine-Tagebuch „Ich kann etwas durchatmen“

Thomas Simmler
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Thomas Simmler ist vor drei Wochen von der Südfront geflohen. Im Westen der Ukraine ist er in Sicherheit. Obwohl damit einige Vorteile verbunden wären, will er sich nicht als Flüchtling registrieren lassen.

 
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Mir geht es besser. Seit drei Wochen bin ich nun in Truskawez im Westen der Ukraine. 1000 Kilometer weit weg vom Atomkraftwerk Saporischschja und damit auch 1000 Kilometer weit weg von der Südfront, wo die Russen Anfang August unsere Stadt angegriffen haben und mehrere Menschen ums Leben kamen. Ich kann jetzt im wahrsten Sinne des Wortes aufatmen. In Marhanez, unserem Wohnort, musste ich ständig husten und bekam schlecht Luft. Dort dachte ich, das sei ganz normaler Raucherhusten. Jetzt ist es viel besser. Ich atme anders und die Nase ist auch nicht dauernd verstopft. Ob es daran liegt, dass der Druck und die ständige Angst weg sind? Oder ist vielleicht doch das nahe Atomkraftwerk gewesen?

Meine Vermieterin hat mir geraten, dass ich mich als Kriegsflüchtling registrieren lassen soll. Obwohl ich Ausländer bin, könnte ich das tun. Dann hätte ich Anrecht auf kostenlose Lebensmittel und medizinische Versorgung. Das will ich nicht. Diese Sachen sollen sie denen geben, die wirklich Not haben. Ich habe ein Zimmer gemietet und Mittagessen bekomme ich für drei, vier Euro in einem kleinen Restaurant ganz in der Nähe – das passt. In der Stadt gibt es viele Menschen aus den Kriegsgebieten. Eine Verkäuferin hat mir erzählt, dass sie aus der Kiewer Gegend kommt. Als ich wissen wollte, warum sie hier ist, hat sie gesagt: „Dann kamen die Panzer“. Mit diesem Satz war alles gesagt. Jeden Abend höre ich vom nahen Bahnhof die Züge Richtung Kiew abfahren. Dann denke ich immer: „Leute, bleibt hier. Hier seid ihr wenigstens sicher.“

Meine Tochter Sofia ist in Dnjepropetrowsk. Sie ist mit ihrer Mutter bei deren Schwester untergebracht. Weil der Freund der Schwester an der Front ist, haben sie zwei Zimmer in einem sechsstöckigen Gebäude. Wir telefonieren, aber im Moment ist es nicht so leicht. Sofias Mutter ist sehr aufgewühlt und ruhige Gespräche sind kaum möglich. Ich hoffe, das ändert sich wieder. Es geht ihnen gut, aber die Front ist nicht weit und das Atomkraftwerk auch. Deshalb wollte ich da nicht hin, sie aber unbedingt. Marhanez, ihr Heimatort, wird derzeit jeden zweiten Tag beschossen. An eine Rückkehr ist also nicht zu denken. Ich will dort auch keinesfalls wieder hin. Die Erlebnisse des Beschusses sind viel zu frisch.

Hans-Thomas Simmler aus Mainleus hält sich seit vielen Monaten in der Ukraine auf. Nach Angriffen der Russen in der Nähe des Atomkraftwerks Saporischschja ist er nun im Westen des Landes untergekommen.

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