Das Ukraine-Tagebuch „Als würde der Krieg Pause machen“

Thomas Simmler
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Thomas Simmler aus Mainleus ist vor drei Wochen von der Südfront geflohen. Im Westen der Ukraine ist er in Sicherheit. Seine bangen Blicke gehen nach Cherson, wo die Russen auf dem Rückzug sind.

 
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Wer an das Gebiet der früheren Sowjetunion denkt, denkt meist an Kälte. Klar, die Winter sind oft eisig. Aber die Sommer sind in vielen Regionen sehr heiß. Bei mir in Truskawez im Westen der Ukraine sind die Temperaturen im Moment ähnlich wie in Kulmbach. Vorgestern bin ich mit dem T-Shirt unterwegs gewesen.

Momentan gibt es hier vom Krieg kaum eine Spur. Soldaten und Miliz sind weiterhin in der Stadt präsent, aber zum Beispiel gibt es fast keine Soldaten-Begräbnisse mehr. Das war vor Wochen ganz anders.

Am Bahnhof herrscht Trubel. Seit dieser Woche fahren hier wieder Züge nach Dnipro und sogar nach Charkiw im Osten des Landes. Ich staune dann, aber tatsächlich gibt es Menschen, die trotz aller Gefahren dort hinfahren. Außerdem sind viele Urlauber unterwegs, die vom Kurort Truskawez nach Hause fahren. Wenn ich von meiner Wohnung zum Bahnhof rüberschaue, dann stehen dort alte Frauen an den Gleisen und verkaufen Selbstgemachtes und alles, was der Reisende so braucht. Ein schönes Bild. Und es wirkt irgendwie, als habe der Krieg Pause und alle verschnaufen.

Kriegsmüdigkeit kann ich bei den Ukrainern nicht beobachten. Natürlich wünscht sich jeder, dass der Wahnsinn bald aufhört. Aber immer unter der Bedingung, dass die Russen das Land komplett verlassen.

Die Menschen schauen in diesen Tagen auf Cherson. Dort sind die Russen bekanntlich auf dem Rückzug. Die Zahl der ukrainischen Flaggen, die in den zurückeroberten Ortschaften hochgezogen werden, nimmt ständig zu. Es gibt aber auch warnende Stimmen, die Russen könnten den großen Staudamm sprengen und Stadt und Umland überfluten. Meine Bekannte in Cherson kann ich seit einigen Tagen nicht erreichen. Die Russen hatten zuvor in einer Nachbarstadt das E-Werk kaputtgeschossen. Außerdem plündern sie offenbar die Wohnungen der Evakuierten.

Hans-Thomas Simmler aus Mainleus hält sich seit vielen Monaten in der Ukraine auf. Nach Angriffen der Russen in der Nähe des Atomkraftwerks Saporischschja ist er nun im Westen des Landes untergekommen.

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