„Wir riskieren immer die Havarie“

 Foto: red

Der „Parsifal“-Regisseur Stefan Herheim sagt im Interview mit dem Kurier dass eine Produktion wie der „Parsifal“ unter den heutigen Umständen nicht mehr möglich sei.

 
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Ein Teil des Opernpublikums, ein kleiner, lehnt Stefan Herheims Inszenierung des „Parsifal“ ab. Der überwiegende Teil jedoch hält sie für eine überwältigend gute Arbeit – manch einer sogar für die beste Inszenierung auf dem Grünen Hügel seit Jahrzehnten. In diesem Jahr ist dieser „Parsifal“ zum letzten Mal zu sehen: im Festspielhaus, aber auch im Fernsehen und im Kino. Darüber, aber auch über die Entwicklung des Konzepts und die Arbeitsbedingungen auf dem Grünen Hügel hat Florian Zinnecker mit Stefan Herheim gesprochen.

Herr Herheim, Ihr umjubelter Bayreuther „Parsifal“ wird nach dieser Festspielzeit vom Spielplan genommen. Wie fühlen Sie sich? Überwiegt die Erleichterung? Oder doch die Trauer?
Stefan Herheim: „Zum letzten Liebesmahle...“ – nun, sicher ist „Parsifal“ für mich eine ganz bemerkenswerte Aufgabe gewesen. Allein die Suche nach einer Konzeption für dieses Werk an diesem Ort war ein Abenteuer. Ebenso der unglaubliche Erfolg, den wir bereits im ersten Jahr hatten. Das hat natürlich bei allen Mitwirkenden eine Euphorie ausgelöst, auch bei allen, die in den darauffolgenden Jahren dazugekommen sind. Ich neige diesbezüglich aber nicht zur Sentimentalität. Ich habe die Inszenierung selbst betreut über diese fünf Jahre, und obwohl sie sehr schnell vorbeigegangen sind, kann ich das Ende gut verkraften. Für mich geht es auf anderen Ebenen weiter – auch mit Wagner – und letztlich fühlt sich nichts älter an als die Premiere von gestern.

Nach der Generalprobe 2009 hat sich das Publikum zum Regiepult gewandt und Ihnen stehend applaudiert. Das hat es vorher noch nie gegeben.
Herheim: ...und das passierte jedes Jahr wieder, es ist quasi zu einer Tradition geworden – und somit fast verdächtig, wenn auch rührend.

Wie geht es Ihnen in diesem Moment?
Herheim: Ich bedaure, dass bei den Generalproben der Vorhang nicht zum Applaus aufgeht und alle Mitwirkenden teil an diesem Echo haben lässt. Diese Inszenierung aktiviert und scheint den Zuschauer so in die Aufführung mit einzubeziehen, dass dieser das Theater nicht verlassen will, ohne entsprechend abreagiert zu haben. Was durch den Applaus kanalisiert wird, meint: Wir waren dabei, wir haben gespürt und begriffen, was dieses Theater sein will. Und ohne uns macht es keinen Sinn!

Das sichtbarste Zeichen dieses Dabeiseins ist der große Spiegel, in dem sich das Publikum am Ende des dritten Aufzugs selbst sieht…
Herheim: Ja, allerdings beginnt diese zeichenhafte Einbeziehung schon lange davor – indem wir ein kollektives Bewusstsein für Geschichte anhand der erzählten Geschichte aktivieren. Mensch, erlöse dich selbst, und zwar indem du deine Rolle und Verantwortung in dieser Gesellschaft erkennst – so könnte man dieses „Erlösung dem Erlöser“ auch auslegen. Es geht um eine Identität, die von jedem Einzelnen infrage gestellt werden muss. Dies ist ein kontinuierlicher Prozess, der mit dem Ende der Aufführung nicht abgeschlossen ist. Die Aufgabe beginnt erst – und anscheinend haben viele Zuschauer das Bedürfnis, diese Botschaft applaudierend zu quittieren.

Haben Sie sich hier im Haus wohl- und von der Festspielleitung genug gewertschätzt gefühlt?
Herheim: Das sind zwei unterschiedliche Fragen. Das Haus ist für mich der Geist, der von den Menschen darin getragen wird – Menschen, die ein Jahr lang an ihren jeweiligen Häusern Oper machen, und die dann den Sommer hier verbringen, um Wagner in Wagners Haus aufzuführen. Die Motivation und Begeisterungsfähigkeit ist beinahe automatisch gegeben, das macht Bayreuth sehr besonders. Die Festspielleitung ist an sich auch eine zweigeteilte Sache. Evas Unterstützung in künstlerischer Hinsicht habe ich zu hundert Prozent. Katharina dagegen ist nicht nur Festspielleiterin, sondern auch selbst Regisseurin. Sie muss den Spagat zwischen diesen beiden Rollen schaffen. Was ihr sicher nicht immer leichtfällt.

In einem Gespräch für das Jahrbuch der „Gesellschaft der Freunde von Bayreuth“ sagen Sie: Unter den heutigen Bedingungen hätten Sie Ihren „Parsifal“ so, wie er ist, nicht mehr hinbekommen. Warum nicht?
Herheim: Weil sich die Strukturen und somit auch die Arbeitsbedingungen weitgehend geändert haben. Es hat sich in vielen Bereichen als schwer erwiesen, das Niveau zu halten, das wir 2008 erreicht hatten. Wir konnten kaum etwas an der Ausstattung ändern, die Probenzeiten waren knapp. Von einer „Werkstatt Bayreuth“, wie man es von früher hier kannte, kann heute nicht mehr die Rede sein.

Woran liegt das?
Herheim: Zum Teil an den finanziellen Problemen, die es überall gibt. Gescheiterte Tarifverhandlungen haben dazu geführt, dass wir in diesem Jahr mit einer neuen Mannschaft Bühnenmeistern arbeiten. Es dauerte natürlich, bis die Neuen das konnten, was die Alten draufhatten. Auch das will geübt und bezahlt werden – und so haben wir uns gefragt, was der Wechsel eigentlich bringen soll. Das ist eine von vielen komplexen Geschichten, die davon zeugen, wie wichtig es ist, Rückhalt im Neuen zu haben, bevor man bewährte Routinen, die Kontinuität in der Arbeit mit den Mitwirkenden sowie gute Traditionen aufgibt.

Ihre Produktion musste in einer Halle im Industriegebiet proben, Ihre Produktion wurde – anders als geplant – nicht bei der Festspielnacht gezeigt und nicht auf Video aufgezeichnet, dazu die Sache mit den Bühnenmeistern… ist das eine Reihe unglücklicher Zufälle – oder ist Ihre Produktion auf dem Hügel nicht wohlgelitten?
Herheim: Es stimmt, dass wir in einigen Bereichen ausweichen mussten, aber über die Beweggründe kann ich nichts sagen, ohne selbst spekulieren zu müssen. Und das bringt nichts. Wir haben die Arbeit unter den gegebenen Umständen fortgesetzt und kamen immer ans Ziel – das allein zählt.

Wie geht es denn – aus Ihrer Sicht – den Bayreuther Festspielen?
Herheim: Um einen Konsens auf Dauer herzustellen, muss man ein klares Profil schaffen – und ein solches erkennt man an besten daran, wie welche künstlerischen Entscheidungen getroffen werden. Dass man Leute vom Film bzw. aus fachübergreifenden Medien holt, kann ich verstehen, aber anscheinend geht es vor allem darum, die Konsumgesellschaft mit großen, bekannten Namen zu befriedigen. Wenn solche aus einem künstlerischen Bedürfnis heraus sich langfristig mit der Aufgabe auseinandersetzen wollen und können, ist das wunderbar, aber das ist ja selten der Fall. Ich möchte kein kategorisches Urteil fällen – in der Vergangenheit führten auch schwer nachvollziehbare Schritte zu „höchster Lust“ und unglaublichen Erfolgen. Einen künstlerisch intuitiven Geist jedoch, dessen Linie Verwunderung jenseits einen kulturpolitischen Pragmatismus auslöst, spüre ich hier zurzeit nicht.

Sie sagen, Sie hätten bei Ihrem „Parsifal“ nicht die Möglichkeit gehabt, nachträglich Änderungen vorzunehmen. Was hätten Sie gern geändert?
Herheim: Ich hätte gerne einiges vom Anfang des zweiten Aufzugs an bis Ende der Blumenmädchenszene neu gestaltet. Da geht der Erste Weltkrieg zu Ende, die Männer, die für ein nationales Selbstbild heldenhaft gekämpft haben, sind gescheitert und liegen mit verstümmelten Körpern im Lazarett, wo sie ihre Eroberer-Fantasien auf Frauen projizieren, von denen sie nun gänzlich abhängig sind. Da haben wir einerseits die Krankenschwestern, andererseits diese Showgirls, die die anbrechende Zeit der Weimarer Republik mit ihrer sexuellen Freizügigkeit einführen. Das alles greift gedanklich, doch gibt es theatralisch störende Rückkopplungen, da wo zu viele Ebenen sich kreuzen. Das schwächt dann auch die Erzählung auf psychologischer Ebene. Wenn man so ein Riesenprojekt zu bewältigen hat, wenn man versucht, eine so massive Zeitreise in Bilder zu fassen und jeden einzelnen Faden so auszurichten, dass die Maschen korrekt liegen und ein gut erkennbares Muster abgeben – muss man immer wieder ganz nah ran und gleich wieder ganz weit weg, und diese perspektivische Pendelfahrt habe ich mit meinem Team zusammen im ersten Jahr und in der Kürze der Probenzeit nicht ausreichend bewältigt. Im zweiten Jahr wollte ich das ändern, doch dafür wäre es notwendig, die Kostüme der Blumenmädchen neu zu machen. Und ausgerechnet diese waren die aufwendigsten und teuersten Kostüme der Produktion gewesen. Die Hürde, diese zu ersetzen, war einerseits groß, weil die Kostümbildnerin Gesine Völlm und die Kostümwerkstätten eine fantastische Leistung damit erbracht hatten. Dazu kam die fehlende Bereitschaft der Festspielleitung, in eine Produktion, die bereits so erfolgreich ist, noch weiter zu investieren. Es reichte scheinbar bereits. Das ist natürlich bedenklich und schade.

Wie schwierig ist es, jetzt im fünften Jahr mit einem völlig neuen Dirigenten zu arbeiten – mit Philippe Jordan, der das Dirigat von Daniele Gatti übernimmt?
Herheim: Das ist an sich überhaupt nicht schwierig, denn Philippe und ich kennen uns bereits und er hat die Produktion letztes Jahr mehrmals gesehen. Es gab aber viel Ungewissheit durch die Kombination von neuen Elementen: Neue Bühnenmeister und -techniker, ein neuer Parsifal, neue Tempi – von denen wieder die Bühnenverwandlungen und Lichtstimmungen abhängen. Bei Wagner sind die Tempo-Varianzen unglaublich groß. Mit Gatti verkürzte sich allein der erste Aufzug binnen drei Jahren um 20 Minuten. Der größte Unterschied ist aber: Bei Philippe spielt Sprache eine ganz andere, viel wesentlichere Rolle, natürlich auch, weil er selbst deutsch spricht. Bei Daniele ging es stärker um Klangvorstellungen. Unter Philippes Dirigat kommen ganz andere Gerüche, Gefühle und Temperaturen zur Geltung, die mich und die Sänger natürlich veranlassen, anders, oft konkreter an Sachen heranzugehen, die wir früher bewusst im Diffusen belassen haben.

Wie haben Sie sich mit den neuen Kräften, Bühnenmeistern arrangiert?
Herheim: Die neue Mannschaft kam im April für zwei Wochen hier zusammen und hat geprobt. Ich selbst war in Berlin, wo ich mit meinem Team den „Xerxes“ inszeniert habe. Täglich haben wir aber mit Bayreuth telefoniert. Die Abläufe waren klar, alles ist dokumentiert, und doch gab es einige Verwandlungen, bei denen niemand richtig sagen konnte, wie und warum sie immer funktioniert hatten. Es ist eine große, sehr fragile Maschinerie, die hier bedient wird, und wir riskieren immer die Havarie. Eine einzige vergessene Steckschraube reicht, um alles zum Stehen zu bringen. Auch sicherheitstechnisch ist das nicht ohne. Unter der effizienten technischen Leitung der Festspiele hat die neue Mannschaft jedoch alle Herausforderungen meisterlich bewältigt. Das ist wirklich eine großartige Leistung. Bei den Bühnenproben konnten wir dann an den Feinschliff gehen, der für die Entfaltung einer Illusion wichtig ist.

Dass Ihr „Parsifal“ nun doch aufgezeichnet und im Kino sowie im Fernsehen gezeigt wird – freuen Sie sich darüber?
Herheim: Natürlich ist es schön, dass die Produktion dokumentiert wird, bevor sie für immer verschwindet. Ich selbst bin aber kein Freund von Oper im Fernsehen, weil die Atmosphäre und die Wirkung einer Aufführung so nur begrenzt vermittelt werden können. Musiktheater findet im Hier und Jetzt statt, zwischen den Anwesenden, die auf alles, was passiert, unmittelbar reagieren und somit auf das Gesamte einwirken können; das ist es, was Theater wirklich und heilig macht. Dazu kommt: Der Zuschauer hat im Theater die ausschlaggebende Freiheit der selektiven Wahrnehmung der ganzen Bühne auf einen Blick. Dagegen wird der Blick des Fernsehzuschauers auf einem Kamerabild und das Ohr auf dem Klang eines Lausprechers reduziert. Natürlich kommt man den Sängern und dem Geschehen zum Teil näher. Aber eine Opernaufführung wird nicht für und aus dieser Perspektive konzipiert und umgesetzt, sondern für den Raum, in dem die Handlung von, mit, in, durch und für Menschen stattfindet, die aktiv Teil des „Mysteriums Theater“ werden.

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