Wohlklang über Trümmern

Von Michael Weiser

Warum gibt es in einer Stadt von der Größe und Bedeutung Bayreuths eigentlich kein eigenes Orchester?  Ein jüngst ins Stadtarchiv gelangter Nachlass wirft ein Schlaglicht auf eine vertane Großchance. Und räumt mit einer hartnäckigen Bayreuther Legende auf.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Es war 1945, es kamen aus Prag vertriebene Musiker, sie baten um die Erlaubnis, ein Orchester gründen zu dürfen. Die Bayreuther wiesen sie ab – „wir haben schon unsere Festspiele“ -, die Musiker zogen weiter nach Bamberg – und gründeten dort  ein Orchester von Weltruf, die Bamberger Symphoniker. 

Soweit eine Legende von Bayreuther Bräsigkeit und Bamberger Weitblick.

Mit einem Nachteil: dass sie so nicht stimmt. Wie's genau lief, belegt auch ein unscheinbarer Nachlass im Stadtarchiv mit Dokumenten, Zeitungsausschnitten, Fotos und Programmzetteln von Erich Bohner (1908 bis 1994). Bohner war Dirigent und Gründer eben eines Bayreuther Profiorchesters - des Bayreuther Symphonieorchesters, kurz BSO.  Seine Tochter hat die Papiere kürzlich dem Stadtarchiv übergeben (wir berichteten).

Eine Stadt in Trümmern

Es muss unsagbar schwierig gewesen sein im Bayreuth der sogenannten Stunde Null. Dem Frühling voller Angst folgte ein Sommer in Trümmern. Ein Neuanfang, überschattet von Mangel und Ungewissheit. In den letzten Wochen des Krieges hatte Bayreuth verheerende Luftangriffe erlebt. In der schwer getroffenen Stadt hatten noch nicht einmal alle ein richtiges Dach über dem Kopf. Schlechte Voraussetzungen für ein Unternehmen, das nichts zum Essen oder Anziehen herstellte, sondern nur – Wohlklang. Bohner, 1944 als musikalischer Assistent zu den letzten Bayreuther Kriegsfestspielen gekommen, wagte es.

Gut ein Jahr später blickte er in einem Zeitungsbeitrag zurück. Von „Fülle an Arbeit“ spricht er, leicht untertreibend. Und von „nahezu unüberwindlichen Schwierigkeiten“. Klar. Die Siebert-Halle – die heutige Stadthalle – war ausgebrannt. Es fehlte an Nahrung, an festlicher Kleidung für Konzerte, auch an Notenmaterial.

Musiker in Menge

Nur an einem fehlte es nicht: an Musikern. 1944 waren die Rundfunkorchester aus Stuttgart und München nach Bayreuth in eine trügerische Sicherheit gebracht worden. Und zum Ende des Krieges hin und danach strömten außerdem Flüchtlinge aus Schlesien und dem Sudetenland nach Bayreuth, unter ihnen viele Künstler.

In dieser Flucht übrigens liegt der Kern des Bamberger Gründungsmythos. Tatsächlich hatten sich viele Musiker des Deutschen Philharmonischen Orchesters Prag in der Domstadt niedergelassen. Aus ihnen gingen die Bamberger Symphoniker hervor.

Spielen über Flüchtlingsbaracken

In Bayreuth tat sich währenddessen Unglaubliches. Die Sieberthalle war ja ausgebrannt, das Markgräfliche Opernhaus zu klein und nicht beheizbar. Da kam für Veranstaltungen nur noch das Festspielhaus in Frage, zu dessen Füßen sich in jenen Tagen Baracken ausbreiteten, in denen Flüchtlinge hausten (in einer von diesen Baracken bildete sich bald die Künstlervereinigung "Freie Gruppe").

Die Amerikaner scherten sich so kurz nach dem Ende von Hitlers Terrorregime jedenfalls nicht um irgendwelche good old German Traditions. Sie stellten Erich Bohner eine Lizenz als Musikveranstalter aus – und ließen ihn und sein BSO in Wagners Weihetempel auftreten. Anfangs ausschließlich für US-Soldaten und Army-Personal, dann aber - ab dem 24. September 1945 - auch für die Besiegten. Das BSO hatte anfangs viel Erfolg, ließ sich auch davon nicht bremsen, dass im Zuge der Entnazifierung immer wieder Musiker das Orchester verlassen mussten.

Tanztruppe in Wagners "Tempel"

Es waren vergleichsweise lockere Zeiten im Festspielhaus, Blasphemie in den Augen vieler Wagnerianer. Als Oberbürgermeister Oscar Meyer kurz nach seinem Amtsantritt im November 1945 dem Gouverneur zu bedenken gab, das Festspielhaus sei eine heilige Halle, erwidert dieser trocken: „Hall is hall“. Und lässt kurz darauf  die legendäre New Yorker Tanztruppe „Rockettes“ die Bühne stürmen.

BSO siecht dahin

Das BSO war Teil eines munteren Bayreuther Kulturlebens, es spielte  nicht nur im Festspielhhaus, sondern auch im evangelischen Gemeindehaus. Und holte Weltklassekünstler wie Wilhelm Kempff zu Konzerten. Die Tage des Bayreuther Orchesters waren dennoch bald gezählt. Es endete zu einem Zeitpunkt, da waren die Bamberger noch nicht einmal durchgestartet.

1949 dirigierte bei den Bambergern erstmals Joseph Keilberth, der einen Großteil der Musiker noch aus Prag kannte. Während die Bamberger unter Keilberths prägender Leitung zu einem Orchester von großem Klang heranwuchsen, trauerte man in Bayreuth bereits einer großen Chance nach: Das BSO hatte wegen Geldmangels vor sich hingesiecht, bevor ihm 1948 die Währungsumstellung den letzten Schlag versetzte. Weder Stadt noch Staat hatten das Bayreuther Orchester fördern wollen.

Abschied mit Verdis "Requiem"

Bohner, der die Leitung des BSO bereits übergeben hatte, verleß im Mai 1949 Bayreuth. In der Stadtkirche hatte er zusammen mit dem Philharmonischen Chor zum Abschied Verdis "Requiem" gegeben. Bohner wandte sich nach Landshut, wurde schließlich wurde er Professor an der Hochschule für Musik in München.

Bohnes aktuelle Fragen

Das BSO ist in Vergessenheit geraten. Einige Gedanken  Erich Bohners aber klingen aktuell: Warum muss das Festspielhaus in alle Ewigkeit einem Kanon von zehn Wagner-Opern vorbehalten sein?  Richard Wagner, der ein „außergewöhnlich revolutionärer Geist“ war, hätte sein Haus sicher auch anderen Komponisten überlassen, zumal angesichts der „furchtbaren Notlage“, in der Deutschland sich befinde, schreibt Bohner in einem Gastbeitrag für eine Zeitung. „Wesentlich bleibt – entgegen der Ansicht einer verstaubten Konvention –, dass das Werk Richard Wagners unangetastet bleibt und zu gegebener Zeit in vollem Glanze wieder erstehen kann.“ Bayreuth habe die Chance, ein deutsches Salzburg zu werden, es verfüge über Festspielhaus und Markgräfliches Opernhaus und damit über ungeahnte Chancen.

Und so schloss Bohner seine Überlegungen: „Möge Bayreuth seine dahin gehenden Möglichkeiten erkennen und rechtzeitig auswerten.“ Dieser Wunsch könnte auch aus unserer Gegenwart stammen.

Bilder