Vortrag: Chinas beängstigender Kommunismus

Von Michael Weiser
Wenig Ahnung von Marx, überhaupt kein Erbarmen: Mao Tse-tung krempelte China um. Sein Gesellschaftsexperiment kostete über 70 Millionen Menschen das Leben - und hat bis heute nicht geendet. Foto. Archiv/dpa Foto: red

Gerd Koenen schafft, was deutschen Historikern nicht so häufig gelingt: Mit Büchern über komplizierte Themen auf Bestsellerlisten zu landen. Mit „Die Farbe Rot“ legte er eine fulminante Geschichte des Kommunismus vor. Am Donnerstag, 8 März, ist Koenen damit in der Buchhandlung Rupprecht zu Gast (20 Uhr) . Wir sprachen mit ihm über Marx’ Erbe, über Terror und Chinas beängstigendes Projekt.

 
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Vor 200 Jahren wurde Karl Marx geboren. Was ist von ihm übrig?

Gerd Koenen: Ein gewaltiges Konvolut von fragmentarischen Texten. Ein ganzer Sarkophag, könnte man sagen, in dem kann man sehr interessante Hinweise für die Gegenwart finden, insofern, als wir noch im selben Zeitstrom leben. Was er analysiert hat, was in der Zeit seines Wirkens begonnen hat, der bürgerlich kapitalistische Entwurf, dominiert, was die Ökonomie betrifft, noch immer die ganze Welt.

Die ganze Welt? China geht, wie wir immer stärker erfahren, einen eigenen Weg.

Koenen: China ist sehr leninistisch und schließlich vor allem maoistisch geprägt. China benutzt kapitalistische Wirtschaftsmethoden und den Weltmarkt als Mittel einer staatlich gesteuerten und koordinierten Akkumulation von Kapital für die „China AG“, die aber von der kommunistischen Partei gehalten wird. Ob von dieser Kommunistischen Partei Chinas ein Weg direkt ein Weg zurückführt zur Marx, ist die große Frage. China baut doch gerade eine fünf Meter hohe Marx-Statue in seiner Geburtsstadt Trier auf.

"Marx kam nicht bis nach China"

Ich erinnere mich, es gab viel Streit darum.

Koenen: Ich meine, dass Marx nie in China angekommen ist.

Können Sie uns das genauer erklären?

Koenen: Für China war die Sowjetunion Vorbild, in dem, was sie in leninistischer und stalinistischer Verfremdung neu formuliert hatte. Schon Lenin hatte sich aus diesem Marxschen Fundus herausgenommen, was ihm passend schien für seinen Plan, mit seiner Organisation von Berufsrevolutionären Russland aus den Angeln zu heben. Als ihm das 1917 gelang, lag das kommunistische Manifest schon 70 Jahre zurück. Das ist so lange, wie die Sowjetunion bestehen sollte.

Überhaupt wurde Marx offenbar sehr unterschiedlich interpretiert.

Koenen: Aus Marx entstand der europäische Sozialismus, mit den deutschen Sozialdemokraten an erster Stelle. Das waren sehr belesene Marx-Kenner, die sich als Teil einer große Reform- und Emanzipationsbewegung sahen. Was Lenin daraus gemacht hat, war eine ganz neue Sache und sehr dem russischen Kontext verhaftet. Was Mao wiederum daraus gemacht hat, war nochmals eine andere Sache, und zwar in sehr chinesischen Zusammenhängen. Als Mao die die kommunistische Partei Chinas mitbegründete, kannte er von Marx fast gar nichts. Kapitalismus ist für ihn ein Weltkapitalismus, der China unterdrückt. Das ist aber schon etwas anderes, als wenn Unternehmer Arbeiter ausbeuten.

Lenins radikaler Ansatz

Warum ist die Revolution eigentlich in Russland ausgebrochen, und nicht in Deutschland, wie es Marx gefordert und Lenin erwartet hatte?

Koenen: Es war so, dass sich in Russland eine Organisation der Bolschewiki um Lenin herum gebildet hat. Der hatte seinen Marx schon gelesen, war aber in einer radikalen Tradition aufgewachsen. Sein Bruder war beim Versuch, den Zaren zu ermorden, erwischt und aufhängt worden. Lenin hat die Tradition des russischen Terrorismus fortgesetzt. Und insofern war das schon ein ganz anderes Projekt als in Westeuropa. August Bebel hätte nie gesagt, gebt mir eine Organisation, und ich heble das Kaiserreich aus den Angeln. Deutschland war auch eine viel zu dichte und gut entwickelte Gesellschaft. In der Situation des ausgehenden Weltkrieges gerät Russland ohnehin in eine große Krise, und es brachen Unruhen aus, an der die Bolschewiki noch nicht mal beteiligt waren. Es entstand aber ein Machtvakuum, und in diesem Machtvakuum schlug den Bolschewiki die Stunde.

Sie beendeten schließlich auf russischer Seite den Krieg, den die deutschen Sozialdemokraten fast schon begeistert unterstützt hatten.

Koenen: Den Krieg hatten die Sozialdemokraten aber nicht gewollt, so wie eigentlich alle europäischen Sozialisten. In so ziemlich jedem Kongress der Internationale wurde feierlich geschworen, dass man nie aufeinander schießen wolle. Sie haben auch bis zum Vorabend des Krieges versucht, das durchzuhalten. Dann setzte der Sog der Mobilisierung ein, und große Teile der Partei sind umgeschwenkt. Diejenigen, die sich verweigert haben, die USPD, hat Lenin übrigens als „Sozialpazifisten“ und Heuchler denunziert, während er daran ging, den Weltkrieg in einen Weltbürgerkrieg münden zu lassen.

Seltsame Zusammenarbeiten

Bereitwillig gefördert durch den deutschen Generalstab, der Lenin 1917 nach Russland schaffen ließ, um das Regime des Zaren zu destabilisieren.

Koenen: Das war ein strategisches Bündnis. Wer dabei wen ausgenützt hat, darüber ließe sich streiten. Letztlich hat Lenin den deutschen Generalstab benutzt. Dass Deutschlands Armee weiter auf die russische Armee drückte, beschleunigte den Zusammenbruch des Zarenreichs und förderte Lenins Sieg.

Eine Zusammenarbeit, die nach dem Krieg zur Kooperation zweier Geschlagener wurde.

Koenen: Ja, das ging dann gleich dem Ersten Weltkrieg weiter, mit der Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee, die durch den Vertrag von Rapallo besiegelt wurde.  Die Zusammenarbeit geht bis 1933, und 1939 kommt es wieder zur Zusammenarbeit, diesmal zwischen Hitler und Stalin zur Aufteilung Polens. Es war Hitler, der das gesprengt hat. China, in den 30er Jahren mit Japans Aggression konfrontiert, ist nach dem Zweiten Weltkrieg auf seine Weise in die Achse des Kommunismus eingetreten. Es waren die beiden Weltkriege, die an der Beginn der Machteroberung der Bolschewiki und der chinesischen Kommunisten standen. In dieser Weltkriegsperiode transformiert sich der  Sozialismus in den westlichen Sozialismus einerseits und in weitere 70 Jahre östlichen Kommunismus andererseits. Nach 1989 folgte eine weitere Transformationsphase, besonders ausgeprägt in Russland und China.

"Haben versucht, das Rad neu zu erfinden"

Sie selber sprechen von Ihrem persönlichen „roten Jahrzehnt“. Was für einer Revolution folgten Sie, was haben Sie für sich gelernt?

Koenen: Wir haben versucht, das Rad neu zu erfinden, aus eigener Opposition heraus. Man hatte ein tiefes Misstrauen in die Kriegsgeneration, das war übrigens nicht nur in Deutschland so, das war eine internationale Jugendbewegung. Und die suchte ihre Orientierung in der Welt da draußen. Den Hauptorientierungspunkt fanden wir dort, was wir für „Dritte Welt“ hielten und als Aufstand der unterdrückten Völker ansahen. In unseren kommunistischen sektenhaften Kleinverbänden konnte man übrigens sehr gut beobachten, wie Radikalisierung und Selbstideologisierung funktionierten, wie man nach einer Ideologie suchte, die das mit Sinn ausfüllte, was man dabei war zu tun. Man redete von Revolution, ohne zu wissen, welche Revolution damit gemeint war. Wir lernten, dass man sich schnell in großer Gefahr befindet, aus ziemlich legitimen, guten Motiven heraus sehr schnell in einen Tunnel zu geraten. Das Ende der Fahnenstange war bei vielen von uns Ende der 70er Jahre erreicht.

Als die RAF Deutschland terrorisierte.

Koenen: Man hat das lächerlich gemacht, von wegen ein kleiner Privatkrieg statt große Revolution. Auch draußen in der großen weiten Welt waren die Helden von heute die Potentaten von morgen. Wir begannen uns jedenfalls für oppositionelle Gruppen in Osteuropa zu interessieren, wie Solidarnosc in Polen. Anfang der achtziger Jahre hatten wir uns wieder auf den Boden der wirklichen Geschichte begeben, der interessanter war als die Trockenschwimmübungen, die wir vollführt hatten, indem Unmassen von Papier beschrieben und demonstrierten. Letztlich beschäftigten wir uns mit uns selbst. Man kann sagen, wir waren für zehn Jahre aus der Bahn geworfen.

Schmerzhafter Lernprozess

Ärgert sie das? Es klingt wie „zehn Jahre weggeworfen“.

Koenen: Ich hätte sie vielleicht sinnvoller einsetzen können. Aber auf eine verrückte Weise habe ich auch viel gelernt. Ich war in einer Sekte, war aber mit der ganzen Welt beschäftigt, mit Geschichte, Ökonomie, Technik, Statistik und vielem anderen. Wir waren nicht einfach Nachbeter, weder von den Sowjets, noch von den Chinesen. Wir haben im Gegenteil unsern Kopf ziemlich angestrengt, um zu beweisen, was nicht zu beweisen war. Auf eine verlustreiche Weise war das ein Lernprozess.

Sie haben sich auch mit Theologie und Philosophie beschäftigt und erzählen in Ihrem großen Buch von Platon in der Antike und Thomas Müntzer in der Reformationszeit.

Koenen: Platon und Müntzer führe ich als eher negative Beispiele an. Die suchten nach so etwas wie einer kommunistischen Gesellschaft, oder besser - den Begriff gab es noch nicht -, sie suchten nach einer eng verschweißten Gesellschaft. Müntzer strebte ein Gottesreich an, bei Platon saßen oben die Philosophen und Krieger und herrschten über die unten. Das könnte einen an das heutige China erinnern, an die kommunistische Nomenklatura überhaupt.

Ausblick auf die IT-Diktatur

Hat das Ganze überhaupt irgendwo mal funktioniert?

Koenen: Es gibt für mich keine positiven Beispiele. Außer, dass aus dem Marxschen Denken der europäische Sozialismus entspringt. Die wirklich großartigen Sozialdemokraten waren sehr aufgeklärte Leute, die mit viel Nachdenken versucht haben, ein Bild der Gesellschaft zu entwickeln. Auch die Revolution von 1905 in Russland war noch ein großer demokratischer Aufbruch, der eine andere Entwicklung möglich hätte machen können. Letztlich ist in der Geschichte eine stark von kapitalistischen Wirtschafts – und Lebensformen getriebene bürgerliche Gesellschaft vorherrschend geworden, als vielleicht bester Boden für Demokratie. Und gleichzeitig hat sich dieses leninistische Modell erstaunlich lange erhalten.

Wie sehen Sie China?

Koenen: Das ist vielleicht das beängstigende Modell überhaupt. Es verbindet das Schlechteste von beiden Seiten: die brachiale Akkumulation von Kapital in einem Prozess ohne Regeln und Rechte etwa von Arbeitnehmern, und gleichzeitig eine neototalitäre Kontrolle der Gesellschaft.

Kombiniert mit den technischen Neuerungen aus Silicon Valley.

Koenen: Das ist noch mal was ganz anderes. Google und Facebook und wie sie heißen müssen individuelle Daten sammeln. Die Chinesen aber kombinieren das mit allem, was der Staat an Datenbanken hat. Bei uns gibt es einen gewissen Datenschutz dadurch, dass es nicht so schnell passieren wird, dass sich Google sich mit der Datenbank beispielsweise der NSA zusammentut. Die Chinesen entwickeln die Künstliche Intelligenz und sind dabei, ein System zu entwickeln, das Sozialpunkte am seine Bürger verteilt, das Strafen, Zahlungsmoral, Verkehrsverstöße, Einkaufsgewohnheiten und anderes registriert. Und wenn man dann was will, heißt es irgendwann: Mein Freund, das wird nichts, du hast einige ganz negative Sachen auf deiner Liste!

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