Viele Franken haben keine (Sozial-)Wahl

Von Peter Rauscher
So sieht der Stimmzettel für die Sozialwahl bei der Rentenversicherung Bund aus. Wer dagegen bei der Rentenversicherung Nordbayern in Bayreuth versichert ist, erhält keinen Wahlbrief. Foto: Jörg Carstensen/dpa Foto: red

Es sind die drittgrößten Wahlen nach der Europa- und der Bundestagswahl: In diesen Tagen werden rund 50 Millionen Wahlberechtigte in Deutschland aufgerufen, ihre Stimme zur Sozialwahl abzugeben.  Wer allerdings bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Nordbayern mit Sitz in Bayreuth versichert ist, hat keine Wahl: Die Zusammensetzung der nächsten Bayreuther Vertreterversammlung steht bereits fest.

 
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Helmut Häußer ist eines von sechs Vorstandsmitgliedern der DRV Nordbayern. Damit ist der 62-jährige Selber,  freigestellter Betriebsratsvorsitzender der Schönwald Porzellanfabrik, Teil der Selbstverwaltung der DRV, ebenso wie je 15 Vertreter von Arbeitgebern und Versicherten in der so genannten Vertreterversammlung, die zweimal jährlich tagt und die alle sechs Jahre neu besetzt wird.

Entscheidung über neue Reha-Klinik

Die Ehrenamtlichen der DRV-Selbstverwaltung stehen selten in den Schlagzeilen, doch sie treffen  weitreichende Personal- und Investitionsentscheidungen, in denen es oft um viele Millionen Euro Versichertengelder geht. Gefragt nach den wichtigsten Beschlüssen der vergangenen sechs Jahre nennt Häußer: Die Erweiterung und den Anbau der Hauptverwaltung in Würzburg, den Bau eines neuen Dienstleistungszentrums in Nürnberg und die umstrittene Entscheidung über den Zusammenschluss der Reha-Kliniken Herzoghöhe in Bayreuth und Bischofsgrün, die derzeit vom bayerischen Sozialministerium geprüft wird. Häußer schätzt, dass die Selbstverwaltungsgremien über rund zehn Prozent des 8,3 Milliarden Euro umfassenden Haushalts der DRV Nordbayern entscheiden.

Vor zwölf Jahren wurde Häußer als Betriebsratsvorsitzender und Mitglied der IG BCE vom damaligen Bezirksleiter der Gewerkschaft gefragt, ob er bei der Rentenversicherung mitarbeiten wolle. "Ich habe ja gesagt, weil ich es interessant fand. Aber ich wusste nicht recht, was auf mich zukommt," sagt Häußer, der als Ehrenamtlicher 70 Euro Aufwandsentschädigung pro Tag im DRV-Einsatz erhält. Nicht wegen des Geldes, sondern aus Interesse an der Sache will er noch eine Wahlperiode dranhängen.

"Friedenswahl" statt Urwahl

Sorgen, abgewählt zu werden, müssen er und die anderen ehrenamtlichen Mitglieder von Vorstand und Vertreterversammlung nicht haben. Die 1,6 Millionen Versicherten der DRV Nordbayern werden wie schon bei den früheren "Wahlen" keine Wahl haben. Es hat bereits eine so genannte "Friedenswahl" stattgefunden. Das heißt: Weil bei der DRV Nordbayern genau 15 Kandidaten für 15 Sitze der Versichertenseite aufgestellt wurden - einer für die Liste „CGB“ (Christlicher Gewerkschaftsbund Deutschland) und 14 für die Liste „DGB/ACA (Deutscher Gewerkschaftsbund/Arbeitsgemeinschaft Christlicher Arbeitnehmer) - erspart sich die DRV Nordbayern die Urwahl. Eine Urwahl halten, neben einigen großen Krankenkassen, lediglich die Rentenversicherung Bund und die DRV im Saarland ab.

"Leichengeruch an der Selbstverwaltung"

Der Sozialwissenschaftler Bernard Braun, der an der Universität Bremen forscht und sich seit den achziger Jahren mit dem Thema Selbstverwaltung beschäftigt, sieht die vom Gesetzgeber ausdrücklich erlaubten Friedenswahlen oder "Wahlen ohne Wahlhandlung" sehr kritisch. "So wird das Prinzip der Selbstverwaltung ausgehungert", sagt Braun dem Kurier. Einer solchen Selbstverwaltung hafte fast schon "Leichengeruch" an.

Schon vor neun Jahren hatte Braun in einem Gutachten für das Bundesarbeitsministerium gefordert, die Urwahl zu stärken. So solle die Zulassung freier Listen erleichtert werden. Derzeit seien die Hürden zu hoch, auch seien Frauen deutlich unterrepräsentiert. Entsprechende Vorstöße seien damals zwar von der Union unterstützt, aber von der SPD mit Rücksicht auf die Gewerkschaften blockiert worden. Das hindert Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) nicht daran, jetzt für die Sozialwahl zu werben: Sie seien "die Chance, direkten Einfluss auf die Entscheidungen der Sozialversicherungsträger zu nehmen", schreibt Nahles.

"Ich kämpfe für mehr Urwahlen"

"Ich kämpfe dafür, dass mehr Urwahlen durchgeführt werden", antwortet Rita Pawelski, Bundeswahlbeauftragte für die Sozialwahlen und frühere CDU-Bundestagsabgeordnete, auf Kurier-Anfrage.  "Wahlen ohne Wahlhandlung“, der Begriff ist eine Verhöhnung des Begriffs der „Wahlen“. Eine solche Verhöhnung sollten wir uns in diesen Zeiten, in denen in bestimmen Ländern Wahlen manipuliert werden, nicht leisten." Versicherte der DRV in Bayreuth könnten Urwahlen erzwingen, wenn sie sich zusammenschlössen, eine Liste und ein Programm erstellten und mindestens 2000 Unterstützerunterschriften sammelten - allerdings erst wieder bei der Wahl im Jahr 2023.

Böse Überraschungen?

Wenn es nach Helmut Häußer geht, wäre das keine gute Idee. Er kandidiert in sechs Jahren zwar nicht mehr, aber: "Es ist schon gut, wenn man in der Selbstverwaltung Leute platziert, die was von der Sache verstehen." Bei Urwahlen könne man auch böse Überraschungen erleben, sagt er vor dem Hintergrund von Wahlerfolgen populistischer Kräfte. Anders als die Versicherten der DRV Nordbayern darf Häußers Frau übrigens schon bei der Sozialwahl ihre Stimme abgeben. Als Versicherte bei der Deutschen Rentenversicherung Bund, die Urwahlen durchführt und mit dem Slogan um Stimmen wirbt: "Wählen, weil in einer Demokratie das Wählen einfach dazugehört."

Stichwort: Sozialwahl

Zur Urwahl bei der Sozialwahl 2017 sind mehr als 30 Millionen Versicherte der Rentenversicherung Bund und der Rentenversicherung Saarland sowie über 21 Millionen Versicherte bei Techniker-Krankenkasse, DAK-Gesundheit, KKH, HKK und – wegen der Fusion zeitverzögert – Barmer-GEK und Deutscher BKK aufgerufen. Gewählt werden per Brief nicht Personen, sondern Listen. Je mehr Stimmen eine Liste erhält, desto mehr Sitze erhält sie in der Vertreterversammlung beziehungsweise im Verwaltungsrat der Sozialversicherung. Dort wird zum Beispiel über Wahltarife (Krankenkassen) oder Rehabilitationsleistungen sowie über Haushalte und die Besetzung hauptamtlicher Führungspositionen entschieden.

Die DRV Nordbayern

Die Selbstverwaltung bei der Deutschen Rentenversicherung Nordbayern mit Hauptsitz in Bayreuth hat zwei Organe: Das „Parlament“, die Vertreterversammlung, besteht aus je 15 Vertretern von Versicherten und Arbeitgebern. Keiner von ihnen ist aus Stadt oder Landkreis Bayreuth. Der sechsköpfige Vorstand vertritt die DRV nach außen und bildet die „Regierung“. Alternierende Vorstandsvorsitzende der DRV Nordbayern sind der mittelfränkische DGB-Geschäftsführer Stephan Doll (Versichertenvertreter) und der Unterfranke Michael Bischof, Bezirksgeschäftsführer bei der vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. und bayme – Bayerischer Unternehmensverband Metall und Elektro e.V.

Lesen Sie dazu den Kommentar: Mehr Demokratie wagen!

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