Über Bayreuths Momente der Weltklasse und die Einzigartigkeit von Bayerns Kultur: Anno Mungen im Interview Anno Mungen: "Oper muss sein!"

Von Michael Weiser

Eine andere Wirklichkeit: Oper muss sein, findet der Musikwissenschaftler Anno Mungen. Weil sie allen Mitwirkenden Freiheit gibt. Und dem Zuschauer tiefe Erlebnisse vermittelt. Nicht zuletzt in Bayreuth, findet der Musikwissenschaftler Anno Mungen.

 
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Was hat uns die Oper als die künstlichste aller Kunstformen heute noch zu sagen?
Anno Mungen: Was sie uns zu sagen hat, ist in der Tatsache begründet, dass sie so ganz ungewöhnlich ist, dass sie eben versucht, Wirklichkeiten ganz anders abzubilden. Darin besteht die Relevanz von Oper. Librettist, Komponist, Musiker, Sänger, Bühnenbildner: Alle zehren sie von der Freiheit der Gattung.

Eine Freiheit, die das Publikum nicht immer gewährt. Gerade in Bayreuth. Ist hier das Publikum zu konservativ?
Mungen: Wer ist wo und wann das Publikum? Ich war in der Generalprobe der „Walküre“. Das ist wieder ein ganz anderes Publikum als etwa zur Premiere. Man muss sich auch fragen, was ist konservativ, was ist modern? Regietheater – ist das modern? Das kann man sich auch fragen. Was ist herkömmlich, was am Werk orientiert? Genauso unklar ist, wogegen sich Publikumsreaktionen richten. Nach der „Götterdämmerung“-Premiere 2013 von Castorf war das klar, als er auf die Bühne kam: gegen den Regisseur. Aber sonst ist das oft indifferent. In Bayreuth zum Beispiel ist das Premierenpublikum vollkommen anders als das der Stipendiatenwoche.

Da sitzen junge Musiker im Publikum, die etwa die „Meistersinger“ von Katharina Wagner positiver beurteilt haben als das gesetzte Publikum.
Mungen: Wir kennen dieses Phänomen. Etwa vom berühmten Fall Chéreau, dessen „Ring“ zuerst auch niedergebuht wurde und sich dann doch etabliert hat. Die „Meistersinger“ waren von Anfang an eine tolle Produktion. Das Publikum in Bayreuth ist speziell. Vielleicht deswegen, weil es doch überm Altersschnitt ist. Und es gibt auch immer noch eine Tendenz, dass Leute, die sich mit Wagner beschäftigen, eher dem konservativen Lager angehören.

Und das heißt nah am Werk. Oder dem, was sie dafür halten.
Mungen: Das ist eine Frage der Erwartungen. Was misst man dem bei, was in Publikumsreaktionen zum Ausdruck kommt? Der Diskurs ist eben wesentlich komplexer, als dass das mit einer Publikumsreaktion zu beurteilen wäre.

Allgemein hört man Klagen, die Festspiele hätten an Bedeutung eingebüßt. Können Sie diese Meinung teilen?
Mungen: Wonach bemisst sich das? Bestimmte Regisseure sind in der Vergangenheit mehr eingestanden für die Bedeutung der Festspiele, gut. Chéreau ganz sicher, aber auch Christoph Schlingensief und Stefan Herheim mit ihren Inszenierungen des „Parsifal“, oder Hans Neuenfels. Das ist alles auch noch nicht mal so lang her. Das Sängerische ist eine ganz eigene Frage. Aber da komme ich auf die Generalprobe zurück, die ich gesehen habe: Das war hervorragend. Da muss man also differenzieren. Und: Die Kulturlandschaft ändert sich. In Nürnberg habe ich danach einen „Siegfried“ erlebt. Und ich muss sagen: Das ist manchmal grandios, was man an anderen Orten, auch an mittleren und kleineren Theatern an Aufführungen von Wagners Opern sehen kann.

In Erl zum Beispiel, wo man einen kompletten „Ring“ in einem futuristischen Haus sehen kann.
Mungen: Ja, Erl in Tirol zum Beispiel. Oder Dessau. Oder auch München. Die Opernfestspiele dort gewinnen an Bedeutung, als wirkliche Festspiele, nicht nur als Verlängerung in den Sommer mit ausgelagertem Repertoire.

Was dazu führen kann, dass viele Spitzensänger für Bayreuth nicht mehr zur Verfügung stehen. Dazu ist Wagner dann doch zu anstrengend.
Mungen: Das weiß ich nicht. Die Besetzung bei den Festspielen 2015 erscheint mir sehr gut. Das sind Besetzungen, die ich in manchen Teilen sogar als Weltklasse empfinde. Dazu hat man Dirigenten der absoluten Spitzenklasse. Da kann man auch nicht klagen. Das Szenische, das scheint mir mehr zu haken. Die Neuausrichtung des „Parsifal“ mit Eric Laufenberg anstelle von Jonathan Meese finde ich nicht so glücklich. Barrie Kosky allerdings, der 2017 in Bayreuth die „Meistersinger“ machen wird, ist einer der interessantesten Regisseure überhaupt, einer, der sehr stark vom Handwerklichen her kommt. Sehr spannend finde ich das. Eine Kosky-Inszenierung ist fast immer gut, und fast immer anders, je nach dem Kontext, in dem er gerade arbeitet.

Alvis Hermanis, der 2018 den „Lohengrin“ in Szene setzen wird, hat in der Theaterszene ebenfalls einen großen Namen. Und er inszeniert zusammen mit Neo Rauch...
Mungen: Hermanis und Neo Rauch, das ist interessant, ja. Man kann gespannt sein. Hoffentlich kommt es da zu einer richtig guten Zusammenarbeit. Mit einem Maler, einem bildenden Künstler in einer bestimmten Situation... – Neo Rauch hat auch noch nie Oper gemacht, oder?

Nein, ich glaube nicht.
Mungen: Die Freiheit der Oper wird nicht so oft ausgeschöpft. Ich finde diese Entscheidung für einen bedeutenden Maler mutig, jetzt muss man die beiden mal machen lassen.

Haben Sie Verständnis für Eltern, die ihre Kinder mit T-Shirts demonstrieren lassen, auf denen steht: „Ich will ins Schwimmbad, nicht in die Oper.“ So geschehen in Bonn.
Mungen: Nein, das kann ich nicht verstehen. Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, da gibt es eben verschiedene Angebote und Möglichkeiten, sich zu finden. Hallenbäder zu schließen ist auch verkehrt, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Der Kulturauftrag hat in der Verfassung eine sehr sinnvolle Form gefunden, die Kommunen müssen allerdings dafür etwas tun. Wichtig ist auch, das zeigte eine Diskussion unter Musikdramaturgen aus ganz Deutschland bei uns im fimt in Thurnau, dass der Spielplan etwas damit zu tun haben sollte, woher die Leute kommen. Dass die Auslastung hoch ist, man aber gleichzeitig ein künstlerisches Programm entwirft, das muss das Ziel sein. Letztlich ist die Kultur in unterschiedlichster Form prägend für uns, für die Gesellschaft, in der wir leben. Der kulturelle Reichtum im deutschsprachigen Raum ist ein absolutes Alleinstellungsmerkmal, mit einem Stadttheatersystem, das weltweit so nicht noch einmal existiert. Das ist ein richtig dickes, gutes Pfund, mit dem man wuchern kann.

Wenn Sie hundert Leute auf der Straße fragen würden, wo man sparen kann, würden vermutlich neunzig auf die Kultur zeigen.
Mungen: Ich bin mir da nicht so sicher. Es kommt natürlich drauf an, wen man da fragt. Militärische Ausgaben würden sicher ganz weit oben stehen. Oder wenn wir an andere Großbaustellen denken: den Berliner Flughafen, Stuttgart 21, oder das Desaster mit der Elbphilharmonie, das mit der Kultur an sich nichts zu tun hat. Bei der Kultur sparen? Da gibt es andere Einsparpotenziale.

Deutschland leistet sich viel Kultur. Zu viel, zu verstreut?
Mungen: Nein, überhaupt nicht, im Gegenteil: Man soll sich nicht verstecken, sondern eher dafür etwas tun, dass dieser Reichtum, der gerade in Bayern enorm ist, noch bekannter wird. Bayern als Opernland: Das könnte man noch ganz anders vermarkten. All die Stadttheater, die vielen Festspiele... Wenn Sie sich Bayreuth anschauen, mit dem Festspielhaus, aber auch dem Markgräflichen Opernhaus: Man könnte richtig was draus machen. Zwei der bedeutendsten Opernhäuser der Welt in einer kleinen Stadt – ich glaube, so etwas ist nur in diesem Land möglich. Ich glaube eher, dass sich unsere Politiker zu viele Sorgen machen. Das kann man schon offensiv vertreten.

Kommen wir auf den Beginn des Gesprächs zurück. Was hat uns die Oper zu sagen? Was „Tristan und Isolde“?
Mungen: Es gibt eine Geschichte an der Oberfläche, und das ist die Liebesgeschichte. Dieses Drama zeigt aber zudem, wie die anderen Figuren untereinander handeln, wie sie miteinander umgehen. Das ist ungeheuer emotional. Tristan und Marke, Tristan und Kurwenal, Isolde und Brangäne: Das sind interessante Beziehungen. Ein wesentlicher Aspekt ist, dass das Geschlechtliche so ausgestellt wird. Im Kontext des 19. Jahrhunderts, in dem wir von einem einfachen Bild des Verhältnisses zwischen Mann und Frau ausgehen können – starker Mann, schutzbedürftige Frau –, wird hier dieses Verhältnis ganz anders dargestellt. Isolde ist zunächst die dominante Figur, Tristan erblüht erst in dem Augenblick, da er körperlich verletzt wurde. Er bäumt sich auf, in einer großen dramatischen Geste.

Wagen Sie doch mal einen Blick in die Zukunft. Wie lange noch wird der Grüne Hügel die Bastion der letzten deutschen Dynastie bleiben?
Mungen: Das werde ich nicht zu entscheiden haben. Ich fände es interessant, das auch mal anders zu machen. Es ist klar, was man durch diese direkte Familienanbindung glaubt erhalten zu können: Atmosphäre, und auch Authentizität. Ich kann mir aber vorstellen, dass man das auch anders machen kann. Oder irgendwann auf andere Mitglieder des Clans zurückgreift. Die Familie ist ja weit verzweigt.