Abbau der Zwei-Klassen-Medizin
Für den Fall von formellen Gesprächen mit der Union versprach Schulz weitere Verhandlungserfolge der SPD. Unter anderem in der Gesundheitspolitik seien Ergänzungen des Sondierungspapiers nötig. «Wir werden konkrete Maßnahmen zum Abbau der Zwei-Klassen-Medizin verlangen – und wir werden sie durchsetzen», sagte er. Gemeint ist die unterschiedliche Behandlung gesetzlich und privat versicherter Patienten. Zudem müssten befristete Arbeitsverhältnisse künftig die Ausnahme sein. Als dritten Punkt versprach Schulz eine wirksame Härtefallregel für den Familiennachzug von Flüchtlingen.
Die Parteispitze hatte diese drei Forderungen in ihren Antrag für die Parteitagsabstimmung eingebaut. Damit gibt es reichlich Zündstoff für die Verhandlungen mit der Union. Denn CDU und CSU sind strikt gegen grundsätzliche Änderungen der 28-seitigen Sondierungsvereinbarung, auf die sich beide Seiten am 12. Januar verständigt hatten.
Noch nie so lange nach einer Regierung gesucht
Schon jetzt dauert die Regierungsbildung so lange wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Erst scheiterten im November die wochenlangen Sondierungsgespräche über eine Jamaika-Koalition an der FDP. Zu den Sondierungsgesprächen zwischen Union und SPD kam es erst nach einer Kehrtwende von Schulz, der sich ursprünglich auf die Oppositionsrolle festgelegt hatte. Hätte die SPD mit Nein gestimmt wären nur eine Minderheitsregierung, eine Rückkehr zu den Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition oder eine Neuwahl möglich gewesen.
Mit dem Votum verhinderten die Delegierten auch den Sturz der SPD in eine tiefe Krise. Für den Fall eines Neins war mit dem Rücktritt von Schulz gerechnet worden. Vor dem Parteitag war die Partei in den Umfragen bis auf 18 Prozent abgesackt.
Schulz mahnt Reform der EU an
Schulz nannte als zentrales Projekt einer großen Koalition einen «Aufbruch in der Bildungspolitik» und hob erneut die Reform der Europäischen Union hervor. Er betonte, dass die SPD trotz ihres schlechten Wahlergebnisses von gut 20 Prozent eine Regierung auf Augenhöhe mit der Union anstrebe. «Die SPD muss und wird sichtbar, hörbar und erkennbar sein.» Sie «muss eine SPD-Regierung sein».
Kühnert sprach von einer «Vertrauenskrise» in der Partei und betonte, dass der Parteitagsbeschluss für oder gegen ein Bündnis mit der Union so oder so schmerzhafte Nachwirkungen haben werde. «Es wird wehtun», sagte er. «Wir werden Menschen vor den Kopf stoßen.»
Regierung seit einem Jahr nur mit angezogener Handbremse
Noch am Sonntagabend wollten die Spitzengremien von CDU und CSU über das weitere Vorgehen beraten. Das Ja der SPD dürfte auch in der Europäischen Union für ein Aufatmen sorgen. Brüssel und wichtige Partnerländer wie Frankreich warten darauf, dass eine neue deutsche Regierung EU-Reformen mit vorantreibt.
Rechnet man den Wahlkampf dazu, agiert die Bundesregierung seit einem Jahr nur noch mit angezogener Handbremse. Seit drei Monaten ist sie nur noch geschäftsführend im Amt.