Im Alter von 90 Jahren ist der Pfarrer jetzt in Pegnitz gestorben Sieger von Kirchbach ist tot

Von Thomas Knauber
Pfarrer Sieger von Kirchbach ist im Alter von 90 Jahren gestorben. Foto: Knauber Foto: red

Königtum, Nationalsozialismus, Kommunismus, Wende – Pfarrer Sieger von Kirchbach hat in 90 Jahren alles erlebt. Jetzt starb er. Am Samstag, 23. August, ist um 11 Uhr seine Beerdigung. Nur eine Woche zuvor erzählte er mit feinem Schmunzeln und seiner bekannt klaren Stimme, wie alles begann. Obwohl er ein Leben lang durch eine schwere Zwillingsgeburt (sein Bruder starb dabei) gehbehindert war und seit 2008 im Rollstuhl saß, sagte er: „Gott hat mir viel Schönes geschenkt. Soll ich da unzufrieden sein?“

 
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Sieger von Kirchbach begann seine Erzählung mit seinem Großvater Adolf von Carlowitz, der sächsischer Kriegsminister war. Dieser zog als General in den Ersten Weltkrieg und weigerte sich, vor Langemark zu stürmen, weil dort die Jugend so verheizt wurde. Daraufhin wurde er von den Preußen abgesetzt. Seine Frau bekam vom König die beiden Prinzen zur Pflege, obwohl sie evangelisch war: „Die sollen lernen, was eine rechte Mutter ist“, sagte Friedrich August III. So wurde ihre Tochter, die Mutter des Sieger von Kirchbach, zur Freundin dieser Jungen. Über diese Mutter Esther gibt es eine Doktorarbeit mit dem Thema „Die Mutter der Landeskirche“, weil sie sehr den Verfolgten und Gefangenen half. Sie hatte zunächst den Grafen Münster geheiratet, der aber im Krieg fiel. Als sie dann ein Lehramtsstudium begann, traf sie den angehenden Theologen Arndt von Kirchbach. Dieser hatte den Krieg als Major überstanden, wollte aber nicht so weiterleben. Mit 35 Jahren begann er deshalb eine Pfarrausbildung.

Beide brachten eigene Kinder in die Ehe. Sieger von Kirchbach war nun das zweite der gemeinsamen Kinder. Insgesamt waren es acht. Durch seine Behinderung lernte er erst mit drei Jahren zu laufen und war von der NS-Sporterziehung befreit. Er erzählte, dass er als Neunjähriger einem Nazioffizier nicht zustimmte, der 1933 von einem großen Fackelzug schwärmte. Die Mutter fragte ihn, warum er das ohne jede Vorkenntnis ablehnen konnte. Er antwortete: „Das merkt man doch.“ Sein „mächtigster Eindruck“ kam bei der Reichskristallnacht. In Dresden geboren, ging er damals in Freiberg ins Gymnasium und sah die zerschlagenen Scheiben eines jüdischen Schuhgeschäftes, alle Schuhe auf dem Obermarkt verstreut und weinende Frauen, die nicht verhaftet waren, in einer Ecke. Ihm entfuhr: „So eine Gemeinheit!“ Daraufhin wurde er von einem Klassenkameraden eingeschüchtert. Ihm fehlte aber der Mut, laut bei seiner Meinung zu bleiben.

Akten in 40 Güterwagen transportiert

Als sich 1934 einige evangelische Pfarrer weigerten, die NS-Übernahme der Bischofsgewalt zu akzeptieren, musste sein Vater in Haft. Der Zweimetermann ließ sich in seinem Lutherrock abführen: „Ich hab keinen Extrarock fürs Gefängnis“, beschied er den Polizisten. Später wurde er Wehrmachtspfarrer fürs Elsass. Deshalb begann Sieger von Kirchbach in Straßburg mit seinem Studium von Geschichte, Latein und Germanistik. Aber die Front rückte näher. Er wich nach Tübingen aus. Von dort holte ihn das Telegramm eines Onkels nach Berlin, der dort im Auswärtigen Amt war.

Der junge Mann sollte im Archiv helfen. Dessen Leiter, den Legationsrat Dr. Ulrich, bewunderte er, weil er still im Kreis „Widerstand im Amt“ gegen die Nazis arbeitete und alle Mitarbeiter aus Berlin herausbrachte. „Mein Ziel war genauso: Du bist verantwortlich! Das spürte man bei ihm sehr.“ Dr. Ulrich blieb bis zuletzt, was ihm vier Jahre in russischer Gefangenschaft einbrachte. Ulrich hatte alle Akten mit 40 Güterwagen in ein Schloss im Harz bringen lassen und Sieger von Kirchbach eingeschärft, bei einem SA-Verbrennungsbefehl – der auch kam – auf einen Ofen zu bestehen, weil der schnell verstopft. Von Kirchbach musste so nur wenige Akten vernichten, darunter die englische Reaktion auf Außenminister Ribbentrop („schickt den Sekthändler fort!“), der den König mit dem Hitlergruß schockiert hatte und die Sätze des Botschafters in Moskau vor dem deutschen Einmarsch: „Russland denkt nicht an Krieg.“ Nach 1945 landeten die Akten in einem Haufen vor dem Marburger Schloss. Mit 20 Italienern sortierte sie von Kirchbach neu.

Hatte der 22-Jährige schon das zerbombte Kassel erlebt, war er noch mehr erschüttert vom völlig bombardierten Dresden, als er 1946 nach einem Protest gegenüber der US-Behörde zur Beerdigung seiner Mutter fahren durfte, die mit 51 Jahren gestorben war. „Das Einzige, was hoch über den Trümmern der Stadt noch stand, war der Engel auf der zerborstenen Glaskuppel der Kunstakademie.“

Bewerbung in die Ostzone

Sieger von Kirchbach wechselte jetzt zur Theologie („ich hab irgendwie nach Festerem gesucht“). Über Göttingen. Mainz und Heidelberg kam er zum Examen. Kurz darauf – 1952 – lernte er seine spätere Frau Dorothea kennen, die Kirchenmusik studierte. Bewusst bewarb er sich jetzt zurück nach Sachsen in die Ostzone. „Sachsen ist es, wofür ich gelebt habe, diese Verantwortung füreinander in diesem kleinen Staat.“ Aber die Reibereien mit den Kommunisten zwangen oft zu Umzügen. Gersdorf, Oberneuschönberg im Erzgebirge und Neuhausen waren nur einige Stationen. Sieger von Kirchbach erzählte, wie ihn die Dörfler stützten und die Oberen missbilligten: „Wenn der Pfarrer weiter so von Haus zu Haus schleicht, dann glauben am Ende auch noch die Genossen an Gott!“ Als seine Familie (vier Kinder gehören dazu) später den Schwiegervater aufnehmen wollte, einen Superintendenten im Ruhestand, war eine größere Wohnung in Meißen nötig. Dort blieben Dorothea und Sieger von Kirchbach 25 Jahre. „Es ist ein Kleinod für jemanden, der so für die Geschichte lebt wie ich“, sagte er.

Zur Wende 1989 war Sieger von Kirchbach dann 65 Jahre alt. Wütend zerriss er den ersten Brief, in dem er als „Pfarrer i. R.“ bezeichnet wurde. „Aber ich musste meine Wohnung für den Nachfolger räumen.“ Nach einem Zwischenstopp bei einem Freund in Torgau folgte das Ehepaar einer Tochter nach Pegnitz, die dort mit Pfarrer Harald Sauer lebte. „Eine herrliche Zeit! Endlich konnte ich reisen! Nach Palästina, Florenz, Venedig, Assisi, Burgund und was ich noch irgend konnte. Ich bin dankbar, dass ich noch so viele Jahre diese Möglichkeit hatte.“