Um zu begreifen, was sich aktuell auf dem Grünen Hügel abspielt, ist ein bisschen Abstand nötig. Am besten eineinhalb Kilometer. So weit ist es vom Grünen Hügel zum Restaurant Weihenstephan in der Bahnhofstraße. Das Weihenstephan ist ein Stammlokal für Solisten, Musiker und Festspielgäste, hier saßen Generationen an Siegfrieden, Steuermännern, Landgrafen, Erdas und Sentas, man könnte Dutzende Namen nennen. Wer regelmäßig kommt, bekommt einen Bierkrug mit eingraviertem Namen, auch Frank Castorf hat einen. Und weil die Künstler kommen, kommt auch das Publikum und bleibt, trinkt und redet bis in die Nacht.

Normalerweise. Nur diese Woche nicht. „Diese Woche war schwierig“, sagt Wirt Ramon Lehnbeuter. „Da war der Wurm drin. Die Leute kamen nicht.“ Die Künstler schon. Aber fast niemand aus dem Publikum.

Knapp 60 000 Gäste besuchen alljährlich die Bayreuther Festspiele. Natürlich liegen für die laufende Spielzeit noch keine Statistiken vor, fest steht aber: Die 60 000 Besucher aus 2014 unterscheiden sich deutlich von den 60 000 aus dem Vorjahr. Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen: Ein solches Publikum wie dieses Jahr hatten die Bayreuther Festspiele noch nie. Es wird die Festspiele nicht nur lang-, sondern schon mittelfristig stark beeinflussen. Und es ist nicht der einzige Unterschied, dass sich weniger Zuschauer nach den Vorstellungen im Weihenstephan blicken lassen.

Ein Drittel aller Tickets wurden online verkauft

Die Zuschauer, die seit 8. August im Festspielhaus sitzen, haben ihre Eintrittskarten im Internet gekauft. Am 13. Oktober, als das Kartenbüro der Festspiele Tickets für zehn Vorstellungen offiziell über die Internetseite der Festspiele zum Verkauf anbot. Im Vorjahr wurden bereits die Tickets für eine einzelne „Rheingold“-Aufführung exklusiv online verkauft, knapp 2000 Stück. Diesmal gingen die Tickets für ein Drittel aller Vorstellungen in den Online-Verkauf: für zwei Aufführungen des „Fliegenden Holländers“, zweimal „Lohengrin“, zweimal „Tannhäuser“, einen kompletten „Ring“ und eine zusätzliche „Walküre“-Vorstellung.

Und obwohl die Reihe der Online-Vorstellungen erst am Montagabend endet und die Festspiele insgesamt erst am 28. August, lässt sich schon jetzt eindeutig sagen: Selten haben so viele Zuschauer wie diesmal die Bayreuther Festspiele zum ersten Mal besucht.

„Alles, was ich über die laufende Saison sage, ist natürlich Kaffeesatzleserei“, sagt Heinz-Dieter Sense, kaufmännischer Direktor der Festspiele. Aber es gibt natürlich Schätzungen: „Normalerweise liegt die Quote der Erstbesucher bei ungefähr fünf Prozent. Bei den Vorstellungen aus dem Online-Verkauf sind es zehn, wenn nicht sogar 15 Prozent.“ Das heißt umgekehrt: Von den jährlichen 60 000 Festspielgästen sind rund 57 000 zum wiederholten Mal da, manche zum zweiten, viele zum fünfzehnten Mal. Das macht sich im Betriebsablauf bemerkbar. „Es gibt in dieser Woche mehr Zuschauer, die sich im Haus nicht auskennen. Unsere Türsteherinnen müssen beispielsweise in dieser Woche viel häufiger den Weg zur Galerie oder zu den Plätzen im hinteren Parkett erklären als sonst“, sagt Sense. Die neuen Zuschauer sind außerdem überdurchschnittlich jung. „Wir sprechen da nicht über die Altersgruppe zwischen 14 und 30 Jahren, sondern eher über die zwischen 30 und 50“, sagt Sense.

Virale Bravos: #bayreuth2014

Der dritte große Unterschied, den Sense nennt, ist weitaus tiefgreifender: Die neuen Zuschauer sind begeisterter als die Stammgäste. Der Jubel ist lauter, es gibt Bravo-Rufe und Ovationen. Aber auch in den Pausen und in den Sozialen Netzwerken äußern sich Zuschauer begeisterter, das kann man nachprüfen, man muss nur bei Twitter nach dem Begriff #bayreuthfestival oder #bayreuth2014 suchen.

Die Begeisterung – das sagt nicht Sense, aber man muss sich im Festspielhaus nicht lange umhören, um das zu erfahren – ist unterschiedslos, Abend für Abend gleich, unabhängig von der Qualität der jeweiligen Vorstellung, unabhängig von der Leistung der Sänger, der Regisseure, der Dirigenten. Obwohl es da gerade in diesem Jahr durchaus Unterschiede gibt.

Begeisterte Zuschauer sind – kurz- und mittelfristig – natürlich genau das, was die Bayreuther Festspiele brauchen. Weil begeisterte Zuschauer über die Festspiele sprechen und damit nicht nur andere Zuschauer nach Bayreuth locken, sondern den Festspielen überhaupt erst Aufmerksamkeit verschaffen – in den Wochen im Jahr, in denen sich das überregionale Feuilleton nicht für Bayreuth interessiert.

Verlieren die Festspiele ihre Stammgäste?

Allerdings nützen begeisterte Zuschauer Bayreuth langfristig nur dann, wenn es auch Grund zur Begeisterung gibt. Das lässt sich an der Lautstärke des Applauses nicht ableiten, es geht eher um den alten Mechanismus, der aus Erstbesuchern Stammgäste macht: Es braucht Zuschauer, die wiederkommen, weil sie überrascht und begeistert worden sind, und die, weil sie wieder überrascht und begeistert werden, auch künftig wiederkommen.

Ob die danach in Bayreuth übernachten oder gleich nach Hause fahren, ob sie eine Kleinigkeit essen oder ausgiebig zechen: Das spielt dabei keine für die Festspiele wesentliche Rolle. Eines aber haben die Festspiele mit der Bayreuther Festspielgastronomie gemeinsam: Sie brauchen die Festspielgäste, die immer wieder kommen.

In den Gremien der Festspiele ist man gerade dabei zu begreifen, wie gefährlich und kurzsichtig es war, auf die Mahnung der Rechnungshöfe hin den Wagnerverbänden als treuestem Stammpublikum die Karten zu streichen. Und man muss gar nicht so viele Abende in Bayreuther Festspiellokalen verbringen, um immer wieder damit konfrontiert zu werden, dass – auch außerhalb der Wagner-Verbände – viele, die bisher Stammgäste waren, in diesem Jahr erstmals nicht gekommen sind.

Es wäre verkehrt, zu glauben, dass das genau die Zuschauer sind, die von den Internetbestellern verdrängt wurden. Es wäre aber auch verkehrt zu glauben, dass die neuen Zuschauer die alten ohne Weiteres ersetzen können.