Hartmut Haenchen: "Ich habe geblufft"

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Hartmut Haenchen bei einem Konzert in Rom. Foto: Musacchio & Ianniello Foto: red

Er lotet gerne die Grenzen des Möglichen aus. Im Kurier-Interview spricht Hartmut Haenchen, der heuer in seinem zweiten und voraussichtlich letzten Jahr "Parsifal" bei den Bayreuther Festspielen dirigiert, über seine Stasi-Akte, die Kugelgestalt der Zeit und eine Einladung von Wolfgang Wagner aus dem Jahr 1982, die nie beim Adressaten angekommen ist.

 
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Herr Haenchen, wenn Sie den Namen Dresden hören, welches Bild haben Sie dann vor Augen?

Hartmut Haenchen: Grau.

Also nicht das prachtvolle barocke Stadtzentrum.

Haenchen: Das gab’s ja in meiner Jugend nicht. Ich bin zwischen Ruinen aufgewachsen. Die Straßen waren zwar freigeräumt, aber links und rechts war alles kaputt.

Sie haben als Zweijähriger die Bombennacht von Dresden erlebt. Können Sie sich wirklich noch daran erinnern?

Haenchen: Ja. Das ist das Merkwürdige. Es streiten sich ja die Wissenschaftler, ob das möglich ist. Aber es steht so klar vor mir. Es gibt viele, die sagen, dass solche außergewöhnlichen Dinge auch einem Zweijährigen im Gedächtnis bleiben können.

Welches Bild sehen Sie dabei?

Haenchen: Ein Feuermeer. Meine Mutter hatte das erst auf dem Sterbebett zugegeben. Ich war lange Zeit sehr zweifelnd, ob das Bild wirklich wahr sein kann, denn sie hatte zuvor immer erzählt, dass sie mit mir und meinen Brüdern außerhalb der Stadt war. Wir haben am Stadtrand auf einem Berg gewohnt und dieses Bild habe ich genau vor Augen: Aus dem Kellerfenster auf ein Feuermeer zu schauen. Das ist wahrscheinlich der erste Eindruck, den ich behalten habe.

Sie tragen seither ein szenisches Leitmotiv durch Ihr Leben.

Haenchen: Es ist mal stärker, mal weniger. Es hat mich sicher in meinem grundsätzlichen Tun immer beeinflusst. Auch damit, dass ich als unbequem gelte. Aber ich kann damit gut leben. Ich bin in diesem Einheitsgrau aufgewachsen. Auch später in der DDR.

Sie haben ja inzwischen oft den Feuerzauber aus Wagners „Ring“ dirigiert. Hat das was mit Traumabewältigung zu tun?

Haenchen: Das würde ich nicht sagen. Es ist für mich eine andere Ebene, weil der Feuerzauber ja inhaltlich eine ganz andere Ursache hat.

Sie können offenbar gut damit umgehen.

Haenchen: Man weiß nie, was solche Sachen mit einem tun, ohne dass man es merkt. Aber ich gehe ja nun schon 74 Jahre damit um. Eigentlich kann ich erst besser damit umgehen, seit mir meine Mutter bestätigt hat, dass wir in dem Keller waren. Seitdem kann ich das loslassen. Bis dahin hatte mich die Frage wahnsinnig beschäftigt, ob es Einbildung ist oder nicht.

Wie stellen Sie die Verbindung von der Bombennacht zum Unbequemsein her?

Haenchen: Das Aufwachsen in einer total zerstörten Stadt hat zur Folge, dass man sehr kritisch denkt und alles hinterfragt. Das mache ich in der Musik ebenso, aber auch in der Politik. Zu bestimmten Dingen mache ich meinen Mund gefragt oder ungefragt auf, um Stellung zu beziehen. Ich war in der DDR ein unbequemer Zeitgenosse und bin es auch jetzt in der sogenannten Demokratie.

Folglich ist Ihre Stasiakte recht umfangreich. Der erste Eintrag stammt aus dem Jahr 1959. Womit haben Sie Aufsehen erregt?

Haenchen: Ich habe Flugblätter gegen die Wahl in der DDR gedruckt. Da wurde die Stasi auf mich angesetzt. Ich konnte nicht verstehen, dass die Leute ganz brav zur Wahl gehen und etwas wählen, was sie nicht wollten. Deshalb habe ich die Flugblätter gedruckt und deshalb hat mich die Stasi verfolgt. Das galt als Kapitalverbrechen. Man hat es mir aber Gott sei Dank nicht nachweisen können. Sonst wäre ich mindestens 15 Jahre hinter Gitter gegangen.

War Ihnen als 16-Jähriger klar, wie gefährlich das war?

Haenchen: Das war mir schon deutlich.

Manches, was Ihnen damals vorgeworfen wurde, liest sich aus heutiger Sicht schon ein wenig skurril. 1966 wurden Sie von der Händel-Gesellschaft der DDR gerügt, da Sie für eine „Messias“-Aufführung nicht die offizielle DDR-Übersetzung benutzt haben, die versucht hat, christliche Bezüge zu tilgen. 1968 haben Sie ein Disziplinarverfahren erhalten, weil Sie das Publikum nach einer Aufführung von Brahms’ Deutschem Requiem dazu gebracht haben, nicht zu applaudieren. Im Wiederholungsfall wurde Ihnen die fristlose Kündigung angedroht.

Haenchen: Ich hatte vier politische Prozesse am Hals, hatte aber Gott sei Dank einen Rechtsanwalt, der mich immer wieder rausgeholt hat. Das Gefährlichste für mich war der Vorwurf der Beihilfe zur Flucht, was ich aber wirklich nicht gemacht habe. Es war so, dass mein Chef mich unbedingt loswerden wollte. Der hat dann eine Unterschrift gefälscht. Mein Rechtsanwalt konnte aber beweisen, dass die Unterschrift gefälscht ist. Ohne diesen Verteidiger wäre ich weg gewesen.

Was hat Sie angetrieben, gegen diesen Staat zu rebellieren?

Haenchen: Ich sehe mich nicht als Revolutionär. Ich habe mich als jemanden gesehen, der aneckt und versucht, eine Form von Demokratie zu leben. Auf der anderen Seite habe ich natürlich versucht, die Grenze des Möglichen zu erreichen, sie aber nicht zu überschreiten. Ich hatte ja nicht unbedingt Lust auf Gefängnis. Insofern habe ich auch Kompromisse gemacht. Aber so wenig wie möglich.

Welche Bedeutung hat für Sie der christliche Glaube?

Haenchen: Der spielt schon eine große Rolle. Ich bin atheistisch aufgewachsen und habe mich erst mit 14 taufen lassen. Das ist für mich schon ein wichtiger Punkt. Ich habe mit 15 meine ersten Konzerte als Kantor dirigiert. Ich musste Geld verdienen. Und so habe ich in einer kleinen Gemeinde eine Stelle als C-Kantor angetreten. Ich bin sehr dankbar, dass das funktioniert hat. Die Musiker waren ja bis zu 50 Jahre älter als ich. Ich habe damit Geld verdient, aber auch unheimlich viel Praxis bekommen. Und ich konnte mich schon sehr früh ausprobieren.

Aus DDR-Sicht gehörten Sie kleinbürgerlichen Verhältnissen an, gehörten also zu einer Art Elite.

Haenchen: Die DDR bevorzugte bei allem Arbeiterkinder. Die hatten alle Chancen. Als Idee klingt das erst mal sehr gut. Aber in der nächsten Generation geht das so nicht weiter. Da sind die Arbeiterkinder plötzlich keine Arbeiterkinder mehr. Die Idee war also etwas zu kurz gedacht.

Im Laufe Ihrer Karriere wurden Ihnen immer wieder Chefdirigentenverträge angeboten, die dann wieder zurückgezogen wurden. Ist das eine Form von psychischer Folter, wie sie von der Stasi ja oft praktiziert wurde?

Haenchen: Das sehe ich schon so. Das ist eine Zermürbungstaktik. Man wollte aber keine zweite Biermann-Affäre. In der DDR hatte ich ja einen ganz guten Namen. Ich habe an der Staatsoper in Berlin dirigiert. Aber es hat schon lange gedauert, bis ich das Spiel durchschaut habe. Sie warfen mir immer etwas hin. Dann hatte ich nicht das Bedürfnis zu gehen. Denn es gab ja tolle Orchester und wunderbare Opernhäuser. Die Restriktionen, was die Programme angeht, haben mich aber schon genervt. So durften die Programme nur zu acht Prozent mit Werken aus dem kapitalistischen Ausland gestaltet werden. Die ersten vier Sinfonien von Schostakowitsch konnte man nicht aufführen, weil sie bei Boosey & Hawkes in London verlegt sind, oder es wäre zu den acht Prozent gerechnet worden.

Wie fühlten Sie sich angesichts dieser Zermürbungstaktik? Wenn die Verträge kurz vor Antritt der Stelle zurückgezogen wurden?

Haenchen: Das erste Mal habe ich mich sehr schlecht gefühlt, weil das fürchterliche Konsequenzen hatte. Ich hatte einen unterschriebenen Vertrag als Chef für die Komische Oper Berlin. Dann wurde ich ins Ministerium bestellt, wo man mir erklärte: Wir halten Sie nicht für politisch reif für diese Position. Wir kündigen hiermit den Vertrag. Man hatte mir auch Geld angeboten, aber ich habe gesagt: Ich will das Geld nicht, ich will die Arbeit. Damit habe ich sie meinerseits in Schwierigkeiten gebracht. Aber das hat sich dann zum Positiven gewendet. Der Chefdirigent, der an meiner Stelle Chef wurde, bekam dann die Partitur von Aribert Reimanns „Lear“.

Der hat dann gesagt: Das kann ich nicht.

Haenchen: Dann hat man mir die Partitur zugestellt mit der Frage, ob ich das machen will. Ich sehe mich da noch in Dresden mit hochrotem Kopf sitzen. Ich habe die ganze Nacht durch die Partitur gelesen. Und habe gesagt: Unbedingt. Das ist eines der besten Stücke, die mir untergekommen sind. So ist es dann zur Erstaufführung des „Lear“ in der DDR gekommen.

Das heißt aber, komplett verstoßen seitens der Staatsführung waren Sie dann doch nicht.

Haenchen: Doch. Ich habe davor drei Jahre lang nichts gehabt. Der „Lear“ war das Erste. Das Einzige, was ich hatte, war das Kammerorchester der Staatsoper Berlin, das spätere Kammerorchester C. Ph. E. Bach, was ich 34 Jahre geleitet habe. Mit denen durfte ich in diesen drei Jahren etwas ganz Neues aufbauen. Und dann kommt das ganz Typische für die DDR. Wir hatten Schallplatten gemacht, die sogleich den Deutschen Schallplattenpreis kriegten. Jetzt kamen Anfragen aus dem Westen für Reisen mit dem Orchester. Das war für die Führung eine Schwierigkeit, denn die wollten natürlich das Westgeld verdienen. Für Westgeld hat die DDR die Ideologie immer verkauft. Immer! Weil sie immer zu wenig Valuta hatten.

Dennoch hat man Ihnen wieder Steine in den Weg gelegt.

Haenchen: Als ich Anfang der 80er Jahre zu den Berliner Philharmonikern eingeladen wurde, kriegte ich keinen Pass. Das Notenmaterial, das mir geschickt wurde, haben sie abgefangen. Sie haben alles versucht, um das zu verhindern. Dann bin ich in meiner Verzweiflung zu einem Gespräch ins Zentralkomitee gegangen und habe gesagt: Wenn ihr mich mein Debüt bei den Berliner Philharmonikern nicht machen lasst, gebe ich alle Dokumente, die ich beim „Spiegel“ hinterlegt habe, zur Veröffentlichung frei.

Sie haben geblufft.

Haenchen: Ich habe geblufft. Dann durfte ich fahren.

Wie kam es 1986 zu Ihrer Ausreise nach Amsterdam?

Haenchen: Es gab ein Kulturabkommen mit den Niederlanden. Ohne dieses Abkommen hätte ich nicht ausreisen dürfen. Ich habe mich selbst freigekauft. 20 Prozent meiner Einkünfte musste ich an die DDR abführen.

Es heißt, Wolfgang Wagner hatte Sie 1982 eingeladen, in Bayreuth den „Fliegenden Holländer“ zu dirigieren. Der Brief ist aber nie bei Ihnen angekommen.

Haenchen: Dieser Brief wurde von der Stasi abgefangen. Wahrscheinlich von der Künstleragentur. Wenn ein Theater jemanden engagieren wollte, ging das nur über die Staatsagentur. Da saßen nur Stasileute. Der Brief ist nie bei mir angekommen. Ich habe davon erst von Wolfgang Wagner erfahren, als er 1994 zu meiner „Meistersinger“-Premiere nach Amsterdam gekommen war. Da sagte er nur so beiläufig zu mir: Schade, dass Sie damals nicht gekonnt haben. Es ging um den Bayreuther „Holländer“ 1985 in der Inszenierung von Harry Kupfer. Den hätte ich dirigieren sollen. Aber der Brief kam in der Zeit, als ich Auftrittsverbot hatte. Dann hat der Däne Woldemar Nelsson dirigiert. Später habe ich den Brief in meiner Stasiakte gefunden.

Sie hätten Ihr Bayreuth-Debüt also nicht erst 2016, sondern bereits 1985 geben sollen.

Haenchen: Genau. Da war ich gerade mal 42 gewesen.

Jetzt hat sich aber doch noch eins zum anderen gefügt, was Bayreuth betrifft.

Haenchen: Ja.

Kann man sagen: Ihre keineswegs linear verlaufene Dirigentenkarriere ist ein Beispiel für die Kugelgestalt der Zeit?

Haenchen: Ja. Absolut. Die Zeitebenen überlagern sich. Weil man ja doch unter einer Käseglocke gelebt hat. Auch wenn ich 1972 Reisekader wurde und zu denen gehörte, die reisen durften, sind doch viele Dinge nicht an mich herangekommen. Auf der anderen Seite tröste ich mich damit, dass ich so viele junge Kollegen sehe, die zwar innerhalb von drei Jahren ganz oben angekommen sind, wo dann aber in der dirigentischen Entwicklung nichts mehr dazukommt. Der ganz alte Weg, den auch Karajan gegangen ist, hat schon was. Dirigieren ist ein Erfahrungsberuf. Deswegen habe ich im ersten Band meines Buches ja auch das Zitat von Richard Strauss aufgenommen, dass er erst mit 70 Jahren begriffen hat, wie schwer Dirigieren ist.

Sie haben kurz vor der Wende einen autoritären Staat verlassen. Was denken Sie angesichts der aktuellen politischen Entwicklung in Europa?

Haenchen: Es macht mir große Angst. Das Verrückte ist ja: Wenn ich jetzt die politische Entwicklung sehe, dann fühle ich mich auf einmal richtig links. Obwohl ich aus einem autoritären sogenannten sozialistischen Staat komme.

Befürchten Sie auch in Deutschland eine Verstärkung autoritärer Tendenzen?

Haenchen: Da hatte ich eine Zeit lang Angst. Die hat sich bei mir aber wieder gegeben, weil sich die AfD selber zerfleischt. Das ist das Beste, was passieren kann.

Sie wohnen in Dresden. Wie erleben Sie die Atmosphäre in der Stadt, die mit ihren Pegida-Demonstrationen Schlagzeilen machte?

Haenchen: Das ist für mich ein Phänomen, das mich als Dresdner trifft und worauf man überall angesprochen wird. Dann muss man erklären: Es hat immer Gegendemonstrationen gegeben, über die wenig berichtet wurde. Ein Großteil der Leute, die bei Pegida demonstrieren, kommt aus Bayern. Darunter sind auch führende Köpfe der Rechten aus Süddeutschland. Natürlich gibt es auch in der Sächsischen Schweiz harte Gruppen, aber es ist auch eine Frage der Berichterstattung. Natürlich muss man darüber berichten, aber ich finde die Ausgewogenheit problematisch.

Was vermissen Sie in der westlichen Gesellschaft?

Haenchen: Es hat in der DDR etwas gegeben, was sich nach der Wende verloren hat. Das war der Zusammenhalt der Andersdenkenden. Wie sich die Menschen untereinander geholfen haben, war Solidarität im besten Sinn des Wortes. Das ist noch mal aufgeflackert nach der großen Flut in Dresden. Das war wirklich berührend, wie uneigennützig jeder dem anderen geholfen hat. Nach der Flut ist die Ellenbogengesellschaft ein bisschen größer geworden.

Sind Sie trotz allem mit der DDR im Reinen?

Haenchen: Versöhnt bin ich nicht. Aber ich habe mir, als ich 1979 meine Chefposition in Mecklenburg räumen musste, gesagt: Lass in dir keinen Hass aufkommen. Hass ist kein Mittel. Das habe ich auch so gehalten. Ich habe dann ja auch wahnsinniges Glück gehabt, dass ich nach Amsterdam gebeten wurde und in den 20 Jahren ein Haus von Weltklasse aufbauen konnte. Damit bin ich zufrieden. Das ist etwas, was hoffentlich bleibt.

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