Geisterdorf Haag: Tote blieben zurück

Von Peter Engelbrecht
Vor 80 Jahren aus ihrem Dorf Haag zwangsausgesiedelt. Foto: red

Elfriede Krapf musste im April 1938 ihre Heimat für immer verlassen. Die Nationalsozialisten erweiterten damals den Truppenübungsplatz Grafenwöhr, ihr Heimatdorf Haag wurde abgesiedelt. Von dem einst blühenden Ort ist nur der Friedhof geblieben.

 
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Die 95-Jährige kann sich an ihr Dorf noch genau erinnern. Als sie mit den rund 400 anderen Einwohnern auf Lastautos verladen wurde, war sie gerade einmal 15 Jahre alt. „Nur Gebüsch, das am Rande der früheren Dorfstraße wuchert, ist geblieben“, berichtete die frühere Lehrerin. „Es gibt kein Dorf mehr“, erläuterte sie bei einer Lesung aus ihrem Buch „Haag – einst ein blühendes Dorf in der Oberpfalz“ im Kultur- und Militärmuseum in Grafenwöhr.

Post und Pfarrkirche

Das Dorf lag einst an der alten Heer- und Handelsstraße, die von Regensburg über Amberg nach Bayreuth führte. Nur Mauerreste, Kellergewölbe, zwei Gedenksteine und der Friedhof weisen noch auf die Ortschaft hin. Eine historische Postkarte zeigt das Dorf mit der königlichen Post, der Pfarrkirche, dem Pfarrhof und den mächtigen Häusern entlang der Reichsstraße. „Haag hat viele Epochen überdauert, die Bauern überstanden zäh Notzeiten, Kriege und Hungersnöte. Sie waren mit dem Boden stark verwurzelt“, hatte Krapf aufgeschrieben. Sie wohnte nach der Zwangsaussiedlung in Nürnberg, heute lebt sie in der Nähe von Neumarkt/Oberpfalz. In dem Dorf habe es alles gegeben, was zum Leben notwendig war. Ein Gemeindeamt, Händler, Geschäftsleute, „eine kleine Welt für sich“. Das Herzstück sei die Kirche gewesen, der Glaube habe den Menschen Kraft und Hoffnung gegeben. Das Dorf mit Wäldern, lichten Höhen und dem tiefen Tal habe ein Bild von „herber Schönheit“ geboten.

Ein letzter Gruß

Als alle Einwohner im April 1938 das Dorf für immer verlassen mussten, hätten sie zum letzten Mal die beiden mächtigen Linden vom Kreitberg gegrüßt. Es herrschte eine unheilvolle Stille. „Die Soldaten schleiften dann die Häuser, die Linden wurden gesprengt“, lauteten die Erinnerungen. Nur der Friedhof am Kalvarienberg überdauerte die Zeit. „Dort liegen heute die Gebeine der Ahnen“, schilderte Krapf. Als frühere Lehrerin ist sie noch immer sehr redegewandt, mit ihren 95 Jahren zeigt sie sich geistig und körperlich fit. Lediglich das Laufen fällt ihr schwer. Sie ist eine der letzten aus Haag, die die Zwangsaussiedlung vor 80 Jahren noch persönlich erlebt hat. Die Höhepunkte des Dorflebens war die Inspektion eines Regierungsbeamten aus Amberg mit einem Flurumgang. „Eure Felder sind wohl bestellt, Gerste und Korn stehen gut“, sind seine Aussagen überliefert. Auch der Bischof aus Bamberg war für drei Tage zu Besuch, die Haager kehrten die Straße und schmückten ihre Häuser. Der Pfarrer war für die Moral zuständig, „er verlangte von den Haagern, einmal pro Jahr zur Beichte zu gehen“, schilderte Krapf. Die soziale Kontrolle im Dorf war groß. In den Erinnerungen von Krapf sind auch bittere Not und Missernten erwähnt, die eine Mutter zwangen, durch den tiefen Schnee heimlich zum Betteln nach Weiden zu stapfen. Ihr Mann war Kriegsinvalide, vertrank sein Geld im Wirtshaus.

3500 Menschen verloren ihre Heimat

Bei der Erweiterung des Truppenübungsplatzes durch die Nationalsozialisten auf die heutige Größe von 23 400 Hektar mussten 3500 Menschen aus 57 Dörfern und Weilern umgesiedelt werden.

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