Frank Castorf schreit Fragen in das Festspielhaus Premierenkritik: Da habt ihr euren Siegfried

Von Florian Zinnecker
 Foto: red

Das Krokodil, das Krokodil, das hat immer recht: In „Siegfried“ lässt Frank Castorf bereitwillige Sänger großes Bedeutungstheater spielen – und stellt dabei ein paar richtig gute Fragen. Warum nur macht das so unzufrieden? Eine Spurensuche.

 
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Siegfried. Vorspiel. Die Fagotte schleichen sich an, die Basstuba glüht. Celli und Kontrabässe zupfen ihre Pizzicati im Forte, nicht im Pianissimo, das ist, als ob man den eigenen Herzschlag in der Kehle spürt. Die Bratschen hämmern einem den Nibelungen-Beat in den Schädel, die Klarinetten lodern, es ist dunkel, man kriegt Angst vor dieser Musik, aber die Sorte Angst, bei der man nicht weglaufen mag.

Man sitzt hier ja nicht vor, sondern in der Musik, sie kommt nicht durch die Ohren, sondern durch die Poren. Man hört mit der Haut. Das muss man aushalten, man kann ja aber sowieso nicht weg.

Und dann geht der Vorhang auf und Frank Castorf beginnt, schallend zu lachen. Darüber, dass man sich gerade so wehrlos hat gefangen nehmen lassen. Er kriegt sich gar nicht mehr ein, er lacht vier Stunden lang (dabei ist er gar nicht da, sondern liegt wieder in irgendeinem Thermenbecken und hat längst vergessen, wer gleich wieder Brünnhilde ist).

Er stellt eines der teuersten und wirkmächtigsten Bauwerke hin, die je auf der Festspielhaus-Bühne gestanden haben, einen Mount Rushmore mit den Köpfen von Marx, Lenin, Stalin und Mao. Unter Stalin steht der Bauwagen von Mime, unter Lenin liegt später Brünnhilde, zwischen Marx und Lenin wird später Siegfried Fafner mit der Kalashnikov niedermähen. Neben Maos Ohr beginnt schon beinahe der Alexanderplatz, neben Marxens Fusselbart führt ein hölzerner Weg steil hinauf, er führt aber nirgendwo hin, immer wieder stürmen Siegfried und Mime hinauf, stehen dann blöd vor dem Pappfelsen und müssen umkehren.

Und das ist nicht nur eine schöne Chiffre für die vielen Fehler, die die Figuren im „Ring“ machen.

Auf dem Holzweg den Berg hinaufstürmen, blöd vor dem Pappfelsen stehen und umkehren müssen – das ist auch das, was Castorf hier andauernd macht. Und er nimmt sein Publikum mit, jedesmal.

Zwangvolle Plage, Müh' ohne Zweck.

Der Bär, den Siegfried fängt, beginnt sich an Mimes Büchern sattzulesen, er kriecht über das Seitenfenster in den Bauwagen, probiert vom Mittagessen, kotzt vor die Tür.

Siegfried ersticht Mime, leert einen Müllsack über ihm aus, spritzt dann den sambakostümtragenden Waldvogel mit Pfützenwasser nass und zeugt dann irgendwas mit ihm, wahrscheinlich kleine Krokodile. Wotan geht mit Edelhure Erda Spaghetti essen, sie knöpft dann seine Hose auf, Siegfried zerrt die – tatsächlich schlafende – Brünnhilde aus einem Haufen Plastikplanen.

Und das ist, einerseits, alles gut und richtig so. Weil Castorf damit ein paar große, wichtige Fragen in den Raum hineinschreit (zum Glück ohne Ton, damit Kirill Petrenko, der einzige, der hier heute wirklich was zu sagen hat, nicht noch mehr gestört wird), und diese Fragen lauten ungefähr: Glaubt ihr das wirklich? Wollt ihr wirklich lieber einen unkritisch strahlenden Helden, einen Siegfried, der Fafner von vorn ersticht und nicht von hinten niedermäht? Wollt ihr wirklich einen unkritisch wandernden Wanderer, eine makellose Erda, glaubt ihr wirklich, dass das ehrlicher wäre? Und er hat natürlich recht damit, genau hier, genau jetzt diese Fragen zu stellen - indem er Bilder zeigt, die bewirken, dass das Publikum sich ihr Gegenteil wünscht (Wald! Neidhöhle! Drachen! Selige Öde auf sonniger Höhe!), um sie dann anhand dieser Wünsche zu überführen.

Aber leider ist es nicht nur schlau, sondern – leider! - vor allem unfassbar nervtötend, krawallig, langweilig und oll. Wenn man bereit war, etwas zu verstehen, dann hat man's schon im „Rheingold“ verstanden. Und dann gibt es eben doch noch einen kleinen Unterschied zwischen Stadttheater und Grünem Hügel, auch wenn Castorf das eine mit dem anderen gleichsetzt und es böse meint. Man geht ins Theater und lässt sich überraschen, es fährt aber keiner nach Bayreuth, um sich eine Woche lang – mit Ankündigung – nerven zu lassen.

Und wenn wir schon bei Wünschen sind: Dann wünscht man sich einen Siegfried, der wenigstens unfallfrei über den ersten Aufzug kommt, der seine Töne nicht aus der Brust durch die Kehle drücken muss wie Lance Ryan, sodass man sich bei den Schmiedeliedern schon Sorgen um Siegfrieds Tod macht, zwei Abende später. Für Ryan ist dieser Abend ein Kraftakt. Für seine Zuhörer auch.

Man wünscht sich, davon abgesehen, einen Alberich, der auch mal einen Ton erwischt und nicht nur alberichesk zwischen den Noten herumschmiert wie Oleg Bryjak – mit dieser Umbesetzung, warum auch immer sie passiert ist, hat sich der Grüne Hügel wirklich keinen Gefallen getan.

Man wünscht sich schon eher eine Brünnhilde, die so strahlt und aufblüht wie Catherine Foster. Die die Partie leben und atmen lässt wie Kirill Petrenko die in die Partitur hineingeschriebene Musik, in ganz großen, ganz langen Bögen. In dieser Kehle schlägt auch ein Herz.

Man wünscht sich eine Erda wie Nadine Weissmann, mit einem Alt, der in der Sonne funkeln würde, wenn in dieser Inszenierung die Sonne schiene. Einen Mime wie Burkhard Ulrich, virtuos und gelenkig, vor allem im Hals. Einen Waldvogel, so munter, bunt und hell wie Mirella Hagen. Und im Grunde wünscht man sich auch einen Wanderer wie Wolfgang Koch, der zwar nicht klingt wie all die anderen Wanderer auf den alten Schallplatten, sein Bass trägt eben doch noch den Alberich im Herzen; für den Wotan, den dieser „Ring“ braucht, ist er aber eine perfekt sitzende Maßanfertigung. In aller Rauheit, in aller scheinbaren Atemlosigkeit.

Und dann natürlich Kirill Petrenko, der schon im Vorspiel – mit sieben verzagten Trompetentönen, allein in der Einsamkeit – alle Hoffnung nimmt, dass das Schwert Nothung jemals zu etwas Nützlichem nutze sein wird (was für eine unverantwortliche Hoffnung wäre das auch). Der aber durchaus Hoffnung hat, als Brünnhilde aufwacht, und die Hoffnung ruht in den Flöten. Der „Ring“, das ist bei Petrenko Musik, die auf nichts vertraut als auf die Liebe, und dann enttäuscht wird. Ein kalter Wind fegt durch die Notenlinien, es ist ein einziges großes Abenteuer.

Es ist natürlich aussichtslos, da mit ein paar Krokodilen auf der Bühne mithalten zu wollen. Wenn man von Anfang an nicht an die Liebe glaubt. Wie traurig, wie langweilig.

Ach, die Richtung ist ja richtig. Aber der Weg führt doch nirgendwo hin.

Hier einmal richtig irritiert zu werden, wirklich alles in Frage zu stellen, was man so glaubt und sich wünscht, mit ein paar Fragen, die mal wirklich ins Hirn und ins Herz treffen. Das wär' was. Hoffentlich passiert das mal. Das wäre richtig gut.

Viele Stimmen in Castorfs Dunstkreis – und auch er selbst – haben in den vergangenen Wochen betont, wie viel diesem Regisseur an diesem Stoff liege. Wie ernst er ihn nehme. Wie ehrlich er damit sei. Es gibt an diesem Abend aber zu viele Momente, an dem man sich – für's nächste Mal – einen Regisseur wünscht, der nicht so sehr enttäuscht ist von allem, dass man das immer dazusagen muss.

Um sich nerven zu lassen, reicht es, den Fernseher einzuschalten.