Eine olympische Liste: Vom größten Erfolg zum unverdientesten Buh Bayreuther Festspiele: Die Bilanz

Von Florian Zinnecker

Die Premierenwoche der Bayreuther Festspiele ist zu Ende. Unser Kritiker hat fast jeden Abend im Festspielhaus verbracht. Es ist Zeit, eine grundsätzliche Frage zu beantworten: Wie war es denn so? Unsere Bilanz, Punkt für Punkt.

 
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Die Premierenwoche der Bayreuther Festspiele ist nicht nur die Zeit, in der Bayreuth regelmäßig in den großen Feuilletons Thema ist. Die Premierenwoche, das war in diesem Jahr vor allem: rund 24 Stunden Musikdrama, aufgeteilt auf sieben Abende beziehungsweise: neunzehn Akte und ein Vorspiel. Ein Rückblick.

Künstlerisch größter Erfolg

Der „Ring des Nibelungen“, alles in allem. Weil die Sänger in den Neben- wie auch endlich in den Hauptpartien in Topform sind. Weil mit Regisseur Frank Castorf endlich wieder mal einer den Mut hat, bühnenästhetisch einen neuen Weg einzuschlagen (in Bayreuth; an der Volksbühne in Berlin ist der Weg seit Jahrzehnten eingelaufen), indem er nicht nur Handlung und Regieanweisung, sondern auch Handlung und gesungenen Text voneinander ablöst. Und weil Dirigent Kirill Petrenko das Bayreuther Festspielorchester nicht nur dirigiert, sondern herausfordert.

Beliebteste Produktion

„Lohengrin“, natürlich auch wegen Klaus Florian Vogt in der Titelrolle.

Spannendstes Gedankenspiel

Was bleibt von einer Inszenierung, wenn man den Namen (und den Markenwert) des Regisseurs weglässt?

Witzigstes Geräusch

Das Flapp-Flapp-Flapp der Rattenfüße im „Lohengrin“. Es gibt eine wunderbare Szene im zweiten Aufzug, kurz bevor der Herrenchor „Gar viel verheißet uns der Tag“ anstimmt. Zwei Ratten sind ausgebüxt und rennen längs und quer über die Bühne, erst die eine, flapp-flapp-flapp-flapp-flapp, dann die andere, flapp-flapp-flapp-flapp-flapp, zwei Laborbuben versuchen sie zu fangen, aber die Betäubungsspritze wirkt nicht, und dann jagen die Ratten die Laborbuben herum, flapp-flapp-flapp-flapp-flapp, flapp-flapp-flapp-flapp-flapp.

Strengstes Verbot, an das sich keiner hält

Fotografieren im Zuschauerraum.

Held der Arbeit

Axel Kober. Es gibt wirklich dankbarere Aufgaben als die, nun schon zum zweiten Mal die ungeliebteste und szenisch schwächste Produktion der Saison bis zu deren Einmottung zu Ende zu dirigieren und dabei jeweils der Nachfolger des großen Christian Thielemann zu sein: erst bei „Tannhäuser“ 2013 und 2014, jetzt beim „Fliegenden Holländer“. Wird Kober auch den „Tristan“ von Thielemann übernehmen, wenn der 2018 den „Lohengrin“ einstudiert? Dabei sind die Fußstapfen des derzeit größten Wagnerdirigenten gar nicht Kobers einziges Problem gewesen: Sein „Holländer“ lag in der Premierenwoche auch noch genau zwischen „Siegfried“ und „Götterdämmerung“, dirigiert vom vielleicht nicht größten, aber derzeit spannendsten Wagnerdirigenten. So dass sich die Kollegen der großen Feuilletons (und nicht nur die) den Termin einfach gespart haben.

Erschütterndstes Geräusch

Das laute Klacken der Türen zur Mittelloge. Während der Aufführung werden diese Türen nur benutzt, wenn jemand – etwa ein bayerischer Ministerpräsident – die Vorstellung verlässt, um sich wegen Luftnot ins Klinikum bringen zu lassen. Seehofer ist aber nicht der Einzige, der vor der Zeit den Saal wegen Herz-Kreislauf-Beschwerden verlassen musste – es herrschte auch während der Akte reger Betrieb im Zuschauerraum.

Überraschendstes Wiedersehen

In der Schlussszene der „Götterdämmerung“ ist ein Video zu sehen, das die drei Rheintöchter und Hagen am Ufer eines Sees zeigt, erst am Feuer liegend, dann treibt Hagen auf einem Floß auf den See hinaus. Dieser See ist der Fichtelsee. Und das Schwimmbad, in dem das Video der tauchenden Rheintöchter aus dem „Rheingold“ gedreht wurde, ist das Hallenbad des Bayreuther Schwimmvereins. Sieht man sofort, und warum nicht: Das sind immerhin die beiden verwunschensten Orte in der ganzen Region.

Beste Hauptrolle

Catherine Foster als Brünnhilde, die sich spätestens in der „Götterdämmerung“ in die Reihe der wirklich großen Bayreuther Brünnhilden hineingesungen hat. Dicht, sehr, sehr dicht gefolgt von Stephen Gould als Tristan, wiederum unfassbar dicht gefolgt von Wolfgang Koch als Wotan, der in der „Walküre“ ganz unerwartet mit voller Stimmbandbreite Wotanklang in den Zuschauerraum hineinsang. Und Siegfried, Stefan Vinke, natürlich.

Spontanster Notfalleinsatz

Evelyn Herlitzius als Isolde, die ungefähr gleichzeitig an der Bayerischen Staatsoper als Elektra engagiert war. Am Abend vor der Generalprobe stand Herlitzius also in München auf der Bühne und am nächsten Tag in Bayreuth, sie sang aber nicht, sondern spielte nur, für sie sang die langjährige Bayreuther Brünnhilde Linda Watson von der Seite, vom Blatt. Erst in der Premiere war Herlitzius dann voll dabei.

Beeindruckendstes Bühnenbild

„Tristan und Isolde“, erster Aufzug. Ein Treppenhaus, das beklommen macht, Wege reißen mittendrin ab, Treppenstücke sacken weg. Und während man noch dabei ist zu verstehen, welcher Weg wohin führt, verschieben sich die Ebenen schon. Perfekte, maßgenaue Arbeit von Frank-Philipp Schlößmann und Matthias Lippert, um das Nichtzueinanderfinden und Einandernichterreichenkönnen nicht nur der beiden Hauptfiguren, sondern aller Charaktere in „Tristan und Isolde“ zu illustrieren. Allerdings: Bei Katharina Wagner finden die Figuren eigentlich vom ersten Moment an zusammen, im Text und in der Musik ihres Urgroßvaters erwächst die Handlung ja erst daraus, dass Tristan und Isolde sich nicht zu wollen trauen, weil sie nicht können dürfen. In dieser Inszenierung wollen und können sie, aber sie dürfen halt nicht. Das macht die Sache einfacher, aber man braucht dann schon ein beeindruckendes Bühnenbild, um durch den Abend zu kommen.

Beste Nebenrolle

Raimund Nolte als hervorragender Melot in „Tristan und Isolde“, dicht gefolgt von Christa Mayer als Brangäne, gleichauf mit Nadine Weissmann als tolle, tolle Erda, mindestens gleichauf mit Tomislav Muzek als Erik und Benjamin Bruns als Steuermann, aber Stephen Meille als Hagen muss hier unbedingt auch stehen, und Kurwenal, was ist das überhaupt für eine blöde Kategorie, da kann man ja nur unfair sein, wir lassen das jetzt.

Rührendster Moment

Als Tristan und Isolde im zweiten Aufzug eine Höhle bauen, um wenigstens ein bisschen Privatheit zu haben in der Totalüberwachung. Und besonders, als sie dann kleine Lichter in die Höhle hängen.

Größte Hoffnung

Dass Katharina Wagner in dieser Saison nicht nur ihren eigenen „Tristan“, sondern auch den von Kirill Petrenko dirigierten und mit einer großen Reihe an Sängern in Top-Form besetzten „Ring“ aufzeichnet und auf Tonträger (oder warum nicht auch digital) herausgibt. Und dass nicht die seit Jahren aufregendste und für bestimmt einige Jahre maßgebliche musikalische „Ring“-Interpretation nach dieser Saison ebenso dem Erinnern, Verklären und dann baldigen Vergessen überlassen wird wie schon die beiden vorigen maßgeblichen Produktionen der Festspiele, der Herheim-„Parsifal“ und der Schlingensief-„Parsifal“. Und die Aufzeichnungen des Bayerischen Rundfunks liegen ja vor.

Unverdientestes Buh

Das bekam Christian Thielemann – wie ein Kollege treffend schrieb, wohl eher für den „Musikdirektor“ als für den „Tristan“.

Verdienteste Publikumsreaktion

Die Ovationen für Klaus Florian Vogt. Und die Ovationen für Kirill Petrenko.

Sicherste Bank

Der Festspielchor unter der Leitung von Eberhard Friedrich. Und das Festspielorchester, das diesmal leider weder zum Abschluss des ersten „Rings“ noch zum Ende der Premierenwoche vor das Publikum trat.

Pathetischster Schlussakkord

Das Walhall-Motiv der Pausenmusiker, geblasen vom Balkon des Königsportals in der zweiten, letzten „Götterdämmerung“-Pause. Ein Moment, der wirklich unter die Haut geht – und der in seiner Mechanik genauso funktioniert wie die Festspiele an sich: ein paar seltene, gut in Szene gesetzte Töne. Die die Erinnerung wecken an ein paar lange vergangene gute Momente. Und die Hoffnung, dass vielleicht ja noch ein, zwei gute Momente kommen werden.