Die kolumbianische Millionenstadt setzt auf Infrastruktur und ihre Bewohner Wie Medellín die Drogendealer bekämpfte

Von Katharina Wojczenko

Wenn Elizabeth Cristina Zapata Holguin aus dem Fenster schaut, sieht sie ihren Arbeitsplatz. Und wenn sie auf den Balkon tritt, landet sie mit großer Wahrscheinlichkeit auf einem Urlaubsfoto von Touristen. Zapata arbeitet für die Verkehrsbetriebe von Medellín in der Comuna 13, dem Viertel, das eines der gefährlichsten Kolumbiens war.

 
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Zapata ist dort aufgewachsen. Heute arbeitet sie als Streetworkerin an der öffentlichen Freiluft-Rolltreppe, die den Bewohnern seit 2011 die steilen Treppen und Gassen erspart, die Ungeübte nach wenigen Metern nach Luft schnappen lassen und durch die kein Bus passt. Den Höhenunterschied von 28 Stockwerken überwinden sie nun mit Hilfe der Rolltreppe.

Cristina Zapata erklärt Fragenden den Weg und wie das Verkehrssystem funktioniert, packt an, wenn sie Hilfe brauchen, beantwortet Fragen zum Viertel und schaut im Vierteltreff nach dem Rechten. Sie mag ihren Arbeitsplatz und hat mitverfolgt, wie die Rolltreppe ihr Viertel verändert hat. Dass jetzt Touristen ihre Topfpflanzen fotografieren, empfindet sie nicht als aufdringlich. „Das macht mich stolz.“

Ein Blick über die Comuna 13:

Video: Katharina Wojczenko

Jeden Tag 19 Morde: Von der gefährlichsten Stadt zum Modell

1991 war die kolumbianische Stadt die gefährlichste der Welt, mit 381 Morden auf 100.000 Einwohner pro Jahr. 6349 Menschen starben, im Schnitt knapp 19 jeden Tag. Mehr als 90 Prozent der Getöteten waren Männer. Das Drogenkartell unter Pablo Escobar beherrschte die Stadt.

Die 90er gelten als verlorenes Jahrzehnt, 46 Prozent der Einwohner waren arm. Unter Bürgermeister Alonso Salazar begann sich das in den 2000er Jahren zu ändern. Heute gilt Medellín als Musterstadt. Auch wenn 2016 die Zahl der Tötungsdelikte im Vergleich zum Vorjahr gestiegen ist, sind sie immer noch die niedrigsten der letzten 30 Jahre – mit 20 Morden auf 100.000 Einwohnern.

 

Mehr zu Mord und Gewalt in Medellín:

Hier gibt es sehr wohl Liebe: Eine Reportage über die Hintergründe von Drogenkrieg und Friedensprozess in der Comuna 13 (Die Zeit)

So hat sich die Mordrate in Medellín zwischen 1980 und 2007 entwickelt (Studie auf Spanisch mit englischer Zusammenfassung)

Medellín 1993-2013: Warum die Stadt immer noch nicht dem Gewalt-Labyrinth entkommt (Spanisch)

2016 ist die Mordrate erstmals wieder leicht gestiegen. (El Tiempo, auf Spanisch)

 

César Hernández, Medellíns oberster Stadtplaner, stammt aus Medellín und hat den Prozess über Jahre mitverfolgt und gestaltet. Denn anders als die Bürgermeister, die die Stadt regierten, blieb die Verwaltung relativ konstant. Vor allem haben die Bürgermeister jeweils Stadtentwicklungs-Pläne hinterlassen, die über ihre Amtszeiten hinausreichten.

Hernández verwendet einen Begriff, der so militärisch klingt wie die Grundlage der Stadtplanung: in das Territorium eindringen. Damit die Stadtplanung überhaupt beginnen konnte, mussten Polizei und Militär die Verbrecher, Dealer und Paramilitärs festnehmen. Viele Guerillakämpfer, aber auch Zivilisten starben dabei. Mehr dazu erfährt man im Museum Casa de la Memoria („Haus der Erinnerung“).

Erst kamen die Soldaten, dann die Seilbahn

Wichtig war, dass der Staat diese Leere – Drogenhandel und die damit zusammenhängenden Strukturen hatte den Alltag dominiert – füllte, erklärt Hernández. Weshalb die Planer zuerst in den ärmsten Gegenden der Stadt loslegten – mit Infrastruktur und Sozialprojekten. Schwerpunkte: Bildung und Kultur.

Video: Katharina Wojczenko

Medellín ist eine Stadt, die vom Flusstal großteils illegal die Hänge hinaufgewuchert ist. Die ärmsten Viertel befinden sich im Norden, an steilen Hängen. Immer wieder kam es zu Erdrutschen, bei denen Menschen starben. Vor allem aber wohnen die Menschen weit vom Zentrum entfernt, wo sie arbeiten. „Mit unseren Seilbahnen haben wir die Fahrzeit von mehr als anderthalb Stunden auf eine halbe reduziert“, sagt John Bayron Romero von den Medellíner Verkehrsbetrieben.

"Der ist sicher um die 30 und sehr nett": John Bayron Romero, der die deutsche Journalistengruppe begleitet hat, ist in Medellín ziemlich prominent: Seine Stimme erklingt bei jeder automatischen Ansage in der Metro. Weil immer wieder Passagiere wissen wollten, wie er aussieht, hat das Lokalfernsehen TeleMedellín ihn in einem Beitrag vorgestellt...

Doch es geht nicht nur um kürzere Wege. An den Hauptumsteigepunkten haben die Verkehrsbetriebe öffentliche Einrichtungen gebaut: Bibliotheken, Veranstaltungsräume. Und es gibt Sozialprogramme, die schon vor dem Bau der neuen Verkehrsmittel beginnen.

Das sieht man an der neuen Tramlinie an der Avenida Ayacucho in der Comuna 9: Die Häuserfassaden sind frisch gestrichen, an einigen Wänden sind in Zusammenarbeit mit den Einwohnern des Viertels prachtvolle Graffiti entstanden.

Nicht nur Fassaden aufhübschen

„Die Stadt bezahlt die Farben“, sagt John Bayron Ramon. Zum Teil haben sich auf den Wänden Künstler verewigt, viele Gemälde haben Bezug zur Geschichte des Viertels. Alles Teil des Begleitprogrammes zur Aufwertung des Viertels mit Namen „Ayacucho te quiero mucho“ (Ayacucho, ich liebe dich sehr).

Wie die neue Tram das Viertel veränderte:  Das Werbe-Video lässt auch Anwohner zu Wort kommen.

An der Avenida Ayacucho hat auch eingesetzt, was in anderen Vierteln schon passiert ist: An der neuen Verkehrsachse siedeln sich Geschäfte an, es sind mehr Menschen auf der Straße als früher. Die Mieten für Neuankömmlinge steigen, die Alteingesessenen profitieren.

Die Seilbahn von der Station Miraflores an der Avenida Ayacucho, die als vierte Seilbahn Medellíns im Dezember 2016 eröffnete, transportiert zwischen 15.000 und 20.000 Passagiere täglich. Alle 13 Sekunden startet eine Gondel. Das nächste Projekt, Linie M, soll im Oktober fertig werden.

"Mia san mia" auf Kolumbianisch

Ein Faktor, weshalb das klappt, ist der in Kolumbien sprichwörtliche Stolz der Bewohner der Region Antioquia. Der Lokalpatriotismus der „paisa“ ist wohl ähnlich ausgeprägt wie das bayerische „Mia san mia“. Es ist ein Begriff, den alle irgendwann als Erklärung in den Mund nehmen – vom Beamten bis zum Armenviertelbewohner.

Vandalismus? Fehlanzeige!

Dieser Stolz hat zur Folge, dass „wir auf unsere Sachen aufpassen“, wie es Stadtplaner Hernández ausdrückt. Vandalismus? Fehlanzeige. „Wir überprüfen alle unsere Projekte jährlich“, sagt Hernández. „Es sind höchstes Gebrauchsspuren, Kratzer.“ Ähnliches berichtet John Bayron Romero von den städtischen Verkehrsbetrieben. Die erste, 20 Jahre alte Metro, schaut innen immer noch aus wie neu.

Stolz auf die Metrokultur

Und sie hat einen Begriff geprägt: cultura metro, Metrokultur. „In der Metro stehen Menschen auf engem Raum zusammen, begegnen und helfen einander“, sagt Bayron Romero. Die Infrastruktur habe den Austausch gefördert, die Menschen offener gemacht. Durch die berüchtigte Comuna 13 gibt es längst Graffitiführungen. Und neue Treffpunkte entstehen zum Beispiel auch an Kläranlagen.

Dass sich Medellín trotzdem nicht zurücklehnen darf, dessen ist sich Stadtplaner Hernández bewusst. Als es vor Jahren mit der Umgestaltung los ging, hätten die Bewohner lernen müssen, dass es für sie nur drei Optionen gab: Gefängnis, gewaltsamen Tod oder Wiedereingliederung in die Gesellschaft.

Nicht nachlassen

„Mittlerweile ist die Lebenserwartung von Menschen, die in Gewaltkonflikte verwickelt sind, von 21 Jahren auf 32 gestiegen“, sagt Hernández und klingt stolz. Er mahnt trotzdem, nicht nachzulassen: „Die Kinder können immer noch leicht in den Kreislauf der Gewalt zurückfallen.“

 

Mehr dazu:

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Die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen unterstützte diese Recherche.