Rauschebart
Wer sich zu einem Besuch in Wo Sarazens Domizil aufmacht, muss auf einiges gefasst sein. Denn er verbringt seine Zeit dort nicht nur mit einem Künstler, sondern mit einem Geschichtenerzähler. Einem 89-Jährigen mit Rauschebart, der viel erlebt hat und dessen Blick beim Erzählen an einem Punkt irgendwo an der Wand verweilt. Als gebe es dort etwas, was nur er sehen kann, als liefe alles, was er erzählt, wie ein Film vor seinem Auge ab. Wo Sarazen erzählt viele Geschichten – verrückte, lustige, ernste.
Er erzählt von Visionen, die er hat. Von übersinnlichen Erlebnissen. Davon will er allerdings nichts in der Zeitung lesen. „Die Leute verstehen das alles nicht. Stattdessen halten sie mich für verrückt.“ Ob es ihn denn störe, dass mancher ihn für einen Spinner hält? „Nein! Weil die Leute mich für verrückt halten und dabei nicht merken, wie verrückt die Welt um sie herum ist.“ Wo Sarazen erzählt von Wilhelmine-Briefen, die er besitzt. Nur wo sie sind, das weiß er nicht. Verlegt hat er sie. „Aber irgendwann tauchen die schon wieder auf.“
Der 89-Jährige erzählt, dass er bis heute auf den großen Durchbruch als Künstler hofft. Ob er dafür nicht zu alt sei? „Irgendwo auf der Welt soll es in den Bergen Mönche geben, die 800 Jahre alt sind“, antwortet Wo Sarazen darauf. In einer anderen Stadt, glaubt er, hätte er es vielleicht längst geschafft.
Mit dem Cadillac über den Markt
Träume hat Baumann immer noch. Zum Beispiel unbeschwert über Geld zu verfügen. Was er mit viel Geld in seinem Alter noch machen wolle? „In einem sechs Meter langen Cadillac, Baujahr 1951, über den Markt fahren. Mit fünf oder sechs jungen Mädchen auf der Rückbank. Und dann mit 100-Mark-Scheinen um mich werfen.“ Der Künstler, dessen Gedanken nicht immer im Heute zu sein scheinen, schweigt einige Augenblicke und schaut ins Leere. „Nein, wenn ich wirklich so viel Geld hätte, würde ich es dem Tierheim spenden.“ Und er würde meterhohe Bilder malen. Wo Sarazen liebt Tiere, vor allem Vögel. Die Vögel in der Eremitage hat er sogar zum Thema in seiner Kunst gemacht. Früher besaß Baumann einmal zwei Raben. In seinem Garten hatten die Tiere eine Voliere. Eines Tages holte sie der Marder. „Was hab ich an dem Tag geweint“, sagt Baumann.
Wenn er an seinen Arbeiten vorbeigeht, wirft er oft nur den Titel des Werkes in den Raum. „Schmerzensmänner“, schnauft er vor Bildern, die verzerrte Gesichter zeigen. Ein Schmerzensmann scheint er auch selbst zu sein. Die großen Holztreppen in seiner Villa hinkt Baumann hinauf. Unter seinen Füßen knarzen die Bretter. Baumann hat ein Kriegsleiden. „Am 14. Mai 1944, in Italien ist es passiert“, schnauft Baumann. Ein Geschoss verletzte sein Bein. Über einen Toten habe er robben müssen, um den Weg zurück zu den eigenen Linien zu finden. Welcher Nation der Tote angehörte, das weiß Baumann nicht mehr. „Und als ich nicht mehr konnte, dachte ich an die wunderschönen Mädchen in den Bars. Ich wusste: Da möcht’ ich noch mal hin.“
Nach einem Rundgang durch Baumanns Haus ist dem Besucher eines klar: Was der alte Mann mit dem Rauschebart erzählt, hat Hand und Fuß, wie verrückt es oft auch klingen mag. Schon vor zehn Jahren hat er Gedichte geschrieben, die die Eurokrise zum Thema hatten. Er installiert die Biografie von Helmut Schmidt hinter unzähligen Zigaretten; die von Franz Josef Strauß hinter einer Engelsfigur. Wo Sarazen ist sehr wohl politisch. Werner Baumann aber war noch nie wählen, sagt er. Surrealistisch und paradox sind seine Werke und seine Person gleichermaßen.
Die Luft im Verrottungsmuseum soll Wo Sarazens Kunst angreifen und zerstören. Dafür wird sie noch Jahre brauchen. Den Künstler selbst hat sie schon erwischt. „Lange kann ich hier unten nicht bleiben. Wegen des Beins und weil ich sonst krank werde.“
Das Wo-Sarazen-Museum in der Brandenburger Straße 36 hat noch bis zum 29. August geöffnet. Jeweils am Mittwoch, Freitag und Sonntag von 10 bis 16 Uhr.