„Containern“ Ein Trend in der Grauzone

Markus Roider
Der 26-Jährige holt seine Lebensmittel aus dem Müll. Foto: Markus Roider Foto: Markus Roider

BAYREUTH/KULMBACH. Immer mehr Menschen versuchen, Lebensmittel aus den Mülltonnen von Aldi, Lidl, Rewe und anderen zu fischen, um sogenannten „Foodwaste“ zu minimieren, also die Verschwendung von genießbaren Lebensmitteln. Es geht um nicht verkaufte Lebensmittel, die in den Container wandern. Insider sprechen vom „containern“ oder dem „Mülltauchen“ und teilen ihre Beute auch in Foodsharing-Gruppen im Internet. Wir haben mit Unternehmen gesprochen, aber auch mit den Menschen, die sich die Lebensmittel aus dem Müll fischen.

 
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Simon H. verzehrt das, was die Supermärkte der Region wegwerfen. Der 26-Jährige aus dem Landkreis Kulmbach ist Mülltaucher und kämpft gegen die Verschwendung von Lebensmitteln. Löblich, dass er Betreiber einer Foodsharing-Gruppe in Facebook ist. Bedenklich, dass er gestohlene Produkte in den Umlauf bringt. Der 26-Jährige geht regelmäßig „containern“, wie er sagt. Das bedeutet, dass er weggeworfene, aber noch essbare Lebensmittel aus Supermarkttonnen holt. Überwiegend angelt er Produkte mit einem abgelaufenen Mindesthaltbarkeitsdatum. „Deswegen ist aber nicht alles schlecht oder ungenießbar“, sagt Simon. Auch haltbare Ware sei nicht selten. Und darum versteht er auch nicht, warum so viele Lebensmittel in die Tonne wandern. Die „Tafel“ wird offenbar nicht so stark bedient, wie man sich das wünschen würde.

Am Wochenende war Simon wieder unterwegs. Bei Aldi und Rewe ist er jeweils fündig geworden. Fleisch, Käse, 50 Eier, Gemüse und vieles mehr. „Drei Kilo Butter alleine bei Rewe“, sagt Simon.  Für ihn selbst ist das zu viel. Über eine Facebookgruppe bietet der 26-Jährige deshalb seine Beute an. Allerdings nicht zum Verkauf, er verschenkt es, denn Foodsharing sei eine Herzenssache, wie er sagt. Es gehe um den Kampf gegen die Lebensmittelverschwendung. Seine Motivation basiere auf ökologischen bzw. umweltpolitischen Gründen. Auch gehe es nicht darum, Geld zu sparen. Simon will auf ein großes Problem aufmerksam machen: Die Verschwendung von Lebensmitteln.

Im Müll wühle er seit rund zwei Jahren. Angefangen habe es damals, als ihn ein befreundetes Pärchen mal mitgenommen habe. Die beiden seien „Vollzeit-Mülltaucher“, sagt Simon. Über 90 Prozent ihrer Lebensmittel beziehe das Paar aus der Tonne. Lediglich Gewürze, Essig oder Öl werde mal hinzugekauft. Das hat ihn beeindruckt, sagt der 26-Jährige, der dann selbst mal mit Kumpels aus der Wohngemeinschaft losgezogen ist. „Das ganze Auto war voll“ – er habe Mühe gehabt die Sachen loszuwerden. „Alles verbrauche ich nicht alleine“, sagt er. Er habe aber auch kein Problem, dass die Sachen ein zweites Mal in die Tonne wandern. „Zumindest konnte ich es dann dezimieren“.

„Zu gut für die Tonne!“

Knapp elf Millionen Tonnen Lebensmittel werden jedes Jahr von Industrie, Handel, Großverbrauchern und Privathaushalten entsorgt – das sind 275.000 große Lastwagen. Jedes achte gekaufte Lebensmittel landet damit alleine in Deutschland auf dem Müll, zeigt eine Befragung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft aus dem Jahr 2017. Pro Person und Jahr waren das rund 82 Kilogramm. Ein Jahr später spricht Bundesernährungsministerin Julia Klöckner von noch 55 Kilogramm. Die Initiative „Zu gut für die Tonne!“ des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) hilft dabei ebenso wie das Engagement der Tafel.

Bis 2030 will die Bundesregierung die Lebensmittelverluste halbieren. „Denn in jedem Lebensmittel stecken wichtige Ressourcen und Energie drin. Viel zu schade für die Tonne, wenn sie noch genießbar sind“, sagt Klöckner. So lange will Simon nicht warten. Für ihn zähle die Gegenwart. Angst vor Konsequenzen hat er nicht, wie er sagt.


Strafbar oder nicht?

„Diebstahl ist eine Straftat“, so Anne Höfer vom Polizeipräsidium Oberfranken auf Nachfrage. Ein sogenannter Antragsdelikt. Man könne aber nicht pauschal sagen, wie das „Mülltauchen“ strafrechtlich verfolgt werde. „Das hängt stark vom Einzelfall ab“, sagt Höfer. Zwar habe sich der Konzern seines Eigentums entledigt, dennoch befindet sich die Ware auf dem Gelände und damit im Besitz des Supermarktes. Müssen Zäune überwunden oder gar beschädigt werden, habe die Angelegenheit schnell eine andere Note. „Dann sprechen wir schon von Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch“, warnt die Beamtin.

Ob das Containern strafbar ist, darüber herrscht auch bei den Juristen keine Klarheit. Höfer spricht von einer Grauzone. Rechtsanwalt Jan Twachtmann unterscheidet hier zwischen einem klassischen Diebstahl und der Wegnahme herrenloser Sachen. Der Bochumer Jurist sagte im Gespräch mit Reporter24, dass man das nicht so einfach pauschalisieren kann: „Eine Sache ist beispielsweise dann herrenlos, wenn der bisherige Eigentümer-Besitzer Besitz und Eigentum dauerhaft aufgibt“. Die Frage in diesem Zusammenhang sei laut Twachtmann jedoch, ob der Supermarkt die Sache, die er in den Container wirft, herrenlos machen will oder ob er nicht eher den Besitz auf den Müllentsorgungsbetrieb zur Vernichtung übertragen will. 

Es muss einen Kläger geben

Das Amtsgericht Düren hat vor einigen Jahren eine 21-Jährige und einen 28-Jährigen wegen Hausfriedensbruchs und Diebstahls verurteilt, die aus den Containern einer Supermarktkette Lebensmittel entnommen hatten. Das Landgericht Aachen hat dieses Urteil laut Angaben von Twachtmann aber aufgehoben, nachdem der Marktleiter den Strafantrag zurückgezogen hat, und eine Strafbarkeit wegen Hausfriedensbruchs damit ausschied. Auch deswegen, weil die Lebensmittel lediglich einen geringen Wert hatten und die Staatsanwaltschaft kein besonderes Interesse an der Strafverfolgung bekundet hat. Es kam daher nicht zu einer grundsätzlichen Entscheidung über die Strafbarkeit der Weg- oder Mitnahme von Lebensmitteln aus Containern in der Rechtsmittelinstanz.

Verwertbare Rechtsprechung zum Aufgabewillen eines Supermarktbetreibers durch das Wegwerfen von Lebensmitteln in einen unverschlossenen Container gibt es – soweit sich Twachtmann erinnern kann – noch nicht von höherrangigen Gerichten. Insofern sei Vorsicht geboten, denn laut Einschätzung des Juristen dürfte es sich tendenziell um Diebstahl handeln, auch wenn eine Einstellung des Strafverfahrens gegen eine Geldauflage aufgrund der Geringwertigkeit der Sachen bei der ersten Begehung wahrscheinlich ist.

Eine Strafbarkeit kommt laut Strafgesetzbuch also vor allem bei der Überwindung eines physischen Hindernisses, wie beispielsweise einem Zaun, als Hausfriedensbruch in Betracht, oder als mitunter schwerer Diebstahl. Einen Zaun musste Simon nicht überwinden, sagt er. „Die Tonnen waren aber vergittert“. Erwischt wurde er noch nie. Seine Kumpels in Bayreuth sprechen davon, dass das schon mal vorkommt. Aber die Konzerne würden keine Anzeigen erstatten, sagt der 26-Jährige. Auch der Bayreuther Polizei sind auf Nachfrage unserer Zeitung in jüngster Vergangenheit keine solchen Fälle in Erinnerung. Eine Statistik gebe es dafür nicht.


Das sagt der Handel

Es ist aber beileibe nicht so, dass Händler nicht auch selbst versuchen, den Lebensmittelwegwurf gering zu halten: So finden sich in zahlreichen Geschäften kleine Flächen, in denen Produkte vergünstigt angeboten werden, die bald das Mindesthaltbarkeitsdatum erreichen. Und auch die Tafeln werden bedient, sagt beispielsweise Aldi-Sprecher Tobias Neuhaus im Gespräch mit Reporter24. „Nahezu alle der 1890 ALDI SÜD Filialen kooperieren mit den örtlichen Tafeln oder anderen sozialen Einrichtungen. Entsprechend unterstützen unsere Filialen in Bayreuth und Kulmbach die örtlichen Tafeln beider Orte“, sagte Neuhaus. Lebensmittel die nicht mehr für den Verzehr geeignet sind, wandern laut dem Sprecher aber natürlich in die Tonne.

Aus diesem Grund sei die Entnahme von Lebensmitteln „aus unseren Abfallcontainern rechtswidrig und wird von der Unternehmensgruppe ALDI SÜD auch nicht geduldet“, sagt Neuhaus. Man sei in diesem Zusammenhang zudem darum bemüht, dass die Müllbehälter an den Filialen lediglich für die eigenen Mitarbeiter zugänglich sind, um somit unbefugter Warenentnahme vorzubeugen. Das erklärt dann auch den Zaun, von dem Simon H. sprach.


Nicht ungefährlich

Der Sprecher von Rewe, Andreas Krämer, kennt das „containern“ wie er sagt. Er warnt die Mülltaucher ausdrücklich. Denn oftmals handelt es sich um Lebensmittel, die verschimmelt sind oder Kontakt zu verschimmelter bzw verdorbener Ware hatten. Diese können weder aus „ethisch-moralischen noch aus juristischen Gründen abgegeben werden“, sgagt Krämer. Gerade Schimmel wird oft unterschätzt: Bei Obst mit einem hohen Flüssigkeitsanteil bilden sich unter bestimmten Bedingungen bedenkliche Schimmelsporen auch schon dann, obwohl man von außen keine Schimmelbildung wahrnehmen kann. „Außerdem können sich in den Behältern Lebensmittelabfälle befinden, die aus Warenrücknahmen stammen“, warnt der Rewe-Sprecher. Diese und andere „Hintergründe“ könne der Mülltaucher nicht (er)kennen. Aus diesem Grund seien die Marktverantwortlichen angehalten, die Müllcontainer vor dem Zugriff Dritter zu sichern. Grundsätzlich komme es bei den Rewe-Märkten eher selten zum „Containern“, sagt Krämer.

Das ist Blödsinn, sagt Simon. Er war schon bei Rewe-Märkten im Raum Bayreuth/Kulmbach. Hier sei das „Containern“ besonders einfach. Doch es gibt auch andere Gefahren. Sei es der Sturz in die Tonne, ein zufallender Containerdeckel oder gebildete Gase, die im Einzelfall das Bewusstsein beeinflussen können. Der 26-jährige Mülltaucher lässt sich davon nicht beirren. Schon bald will er wieder losziehen. Nach seiner letzten Tour konnte er sich selbst und zwei Familien versorgen. Gesundheitliche Probleme habe er noch nie gehabt.