Coburger Studie Deutschland braucht 260.000 Zuwanderer in den Arbeitsmarkt

Interview von
Symbolfoto: Patrick Pleul/dpa Quelle: Unbekannt

COBURG. Der Coburger Professor Lutz Schneider erregt Aufsehen: Deutschland brauche künftig jährlich 260.000 Zuwanderer in den Arbeitsmarkt. Dies hat er für eine Studie ermittelt.

 
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Herr Professor Schneider, wie kommen Sie auf diese Zahl?

Lutz Schneider: Unsere Studie ist eine wissenschaftliche Projektion, die auf der aktuellen demografischen Entwicklung in Deutschland basiert. Eine wichtige Grundlage für unsere Arbeit war eine ganze Reihe von Daten, die uns beispielsweise vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung in Nürnberg bereitgestellt wurden. In unserer Annahme für die Studie haben wir schließlich die aktuelle, natürliche Bevölkerungsentwicklung in Deutschland bis 2060 fortgeschrieben. Und dies in Relation zu den dann verfügbaren Arbeitskräften gestellt.

Sind die aktuelle und möglicherweise kommende Migration schon berücksichtigt?

Schneider: Natürlich ist auch dieser Aspekt in unsere Arbeit eingeflossen, aber in der Demografie sind die Wanderungsbewegungen meist eine volatile Komponente, also schwankenden Ausschlägen in die eine oder andere Richtung unterworfen. Und: Wir beschäftigen uns in der Studie mit Erwerbspersonen und letztendlich dem Arbeitsplatzangebot. Da kommt es natürlich auch darauf an, wie viele der in Zukunft in Deutschland lebenden Personen dem Arbeitsmarkt tatsächlich zur Verfügung stehen werden. Das heißt: Wir mussten auch die Erwerbsbeteiligung prognostizieren, also beispielsweise die der Frauen oder der bereits zugewanderten Migranten. Auf Basis der Trends der Vergangenheit haben wir verschiedene Varianten und Szenarien errechnet und sind letztendlich zu der Annahmen gekommen: Selbst wenn Männer und Frauen gleich viel arbeiten würden und die Rente mit 70 in Deutschland eingeführt würde, kann der Bedarf nicht mit Fachkräften aus dem Inland gedeckt werden.

Eine sichere Aussage?

Schneider: Zu solchen Prognosen wie unserer gibt es keine Alternative. Entweder macht man diese auf der Basis von Annahmen und so wissenschaftlich solide und gründlich, wie es geht - oder man überlässt das Feld denjenigen, die solche Aussagen aus dem Bauch heraus machen. Da bevorzuge ich das wissenschaftliche Arbeiten. Wir stellen keine unbegründeten Thesen auf, unsere Studien sind ehrlich und weisen immer auf mögliche Unsicherheiten hin.

Zurück zum Inhalt Ihrer Studie: Wie werden sich denn künftig die Anforderungen an die Arbeitnehmer und der Bedarf verändern?

Schneider: Wenn man wissen will, wie sich die Nachfrage nach Arbeitskräften entwickelt, kommt man natürlich auch an den Themen Digitalisierung und Industrie 4.0 nicht vorbei. Hier stellt sich klar die Frage: Wie viele Menschen können künftig in der Arbeitswelt potenziell durch Roboter und Automatisierung ersetzt werden? Bei diesen Fragen haben wir auf eine Projektion des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung zur mittel- und langfristigen Entwicklung der Arbeitskräftenachfrage zurückgegriffen, die von einem künftig sinkenden Bedarf ausgeht. Gleichzeitig wird aber auch das Potenzial an Erwerbspersonen zurückgehen.

Und damit dieser Mangel nicht entsteht, müssten somit laut Ihrem Studienergebnis bis 2060 jährlich mindestens 260.000 Menschen zuwandern.

Schneider: Ja. Denn es ist sicherlich nicht verkehrt, wenn man eine gewisse Quantität hat. Außerdem bedeutet diese Zahl ja nicht, dass Leute nach Deutschland kommen sollen, die arbeitsmarktfern sind. Wir weisen ja auch darauf hin, dass die Qualifikationsanforderungen in Zukunft steigen werden und deshalb eine qualifizierte und arbeitsmarktorientierte Zuwanderung gefördert werden müsste. Schon jetzt ist ja unser System so angelegt, dass man erst ein Arbeitsplatzangebot braucht, um überhaupt in den Arbeitsmarkt einwandern zu können. Anders bekommt man keinen erwerbsorientierten Aufenthaltstitel. Ein Einwanderungsgesetz sollte daher so ausgelegt werden, dass wir eine an der Nachfrage orientierte Zuwanderung haben.

Sie haben berechnet, dass künftig im Jahresschnitt 114.000 Personen aus anderen EU-Staaten kommen werden und demnach 146.000 Menschen aus sogenannten Drittstaaten einwandern müssten. Wie sollte nun die Politik darauf reagieren?

Schneider: Ich würde nicht einer Strategie das Wort reden, dass wir alle Kriterien, die ein Einwanderungsrecht hat, jetzt fallen lassen. Dennoch muss man sehen, dass derzeit noch sehr wenige Menschen aus Drittstaaten über die erwerbsorientierten Aufenthaltstitel nach Deutschland kommen. Da sollten wir jetzt nicht restriktiver werden, sondern wir können die derzeitige Regelung beibehalten und an gewissen Stellen sogar noch etwas liberaler werden.

Das könnte aber bei migrationsskeptischen Gruppen in unserer Gesellschaft nicht gut ankommen.

Schneider: Natürlich ist in den vergangenen dreieinhalb Jahren vor allem die asylbedingte Zuwanderung in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Uns geht es aber um mehr erwerbsorientierte Zuwanderung. Und wenn man sich dann die Zahl von jährlich 260.000 vor dem Hintergrund der Zahlen von 2017 ansieht: Da hatten wir 500.000 Menschen, die zugewandert sind. Rein von den nüchternen Gesichtspunkten des Arbeitsmarktes betrachtet, würde es ja schon ausreichen, wenn wir künftig die Hälfte dieser Zuwanderung haben.

Sollte man das Fachkräftezuwanderungsgesetz jetzt möglichst schnell auf den Weg bringen?

Schneider: Wir unterstützen Vorschläge, die auch der Sachverständigenrat für Migration und Integration macht, beispielsweise nach einem Einwanderungsbuch nach Vorbild des Sozialgesetzbuches. Hier könnte man die einzelnen unterschiedlichen Arten der Migration - Familienmigration, Bildungsmigration, Asylmigration und eben auch Erwerbsmigration - genau unterscheiden und transparent regeln. Man muss den Menschen einfach das Gefühl geben, dass Migration geregelt und gesteuert wird. Das ist wichtig, damit keine unbegründeten Ängste entstehen. Vielleicht kann es ein Effekt unserer Studie sein, dass es in dieser Debatte jetzt etwas schneller geht. Mir liegt am Herzen, dass man die deutsche Bevölkerung davon überzeugt, dass wir auf Migration angewiesen sind - auch wenn man nicht alle Erscheinungsformen gutheißen muss.


Zur Person: Lutz Schneider ist seit 2013 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Coburg. Außerdem ist er Forschungsprofessor am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). Seine Schwerpunkte liegen im Bereich der ökonomischen Effekte des demographischen Wandels und der Migration. An der kürzlich veröffentlichten Studie der Bertels-mann-Stiftung zum Zuwanderungsbedarf hat er maßgeblich mitgeschrieben. Ko-Autoren waren Johann Fuchs und Alexander Kubis vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung.

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