Blaue Mädchen: Eine Daseinsform, kein Job

Sie sind blau und nennen das auch so, sind süchtig nach Wagner und haben oft Leitmotive im Knopf, aufs Verwirrendste verknotet: Die Blauen Mädchen sind die Türsteherinnen im Festspielhaus. Antonia Goldhammer gehört zu ihnen. Und berichtet dem Kurier von einer ganz besonderen Beziehung.

 
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Meine erste Festspielzeit als Blaue war 2007, und ich habe bis zum letzten Tag gesagt, ich mache das nie wieder. Ich wusste schon als Kind, dass es diesen Job gibt, und dachte immer: Irgendwann will ich das mal machen - allein, weil es in Bayreuth quasi zum Aufwachsen dazugehört. Dazu kam, dass wir festspielhausnah gewohnt haben; ich war im Tristan-Kindergarten, meine Mutter hat in der Richard-Wagner-Apotheke gearbeitet – ein bisschen war es also auch Schicksal.

Ich wusste, dass es darum geht, Eintrittskarten zu kontrollieren, Programmhefte zu verkaufen, die Zuschauer in den Zuschauerraum zu lassen und notfalls wieder raus, Erste Hilfe zu leisten, wenn jemand in Ohnmacht fällt. Die Festspielgäste erwarten , dass man sich mit den Werken auskennt, dass man genau weiß, wie lange die Akte dauern, wer singt und seit wann die Rollen so besetzt sind. Wir sind eben die ersten Ansprechpartnerinnen der Festspiele, mit denen die Zuschauer persönlich zu tun haben.

"Was für ein krasser Job"

Ich hatte aber keine Vorstellung davon, wie wahnsinnig anstrengend es ist, jeden Tag Wagner zu hören. Mein erster Dienst war bei einer „Walküre“-Generalprobe; ich kam sehr überwältigt nach Hause, mit der Musik im Ohr und dem ganzen Wumms dieser Vorstellung in mir drin. Normalerweise wirkt das alles drei, vier Tage nach, und dann ist es vorbei. Auch diesmal wirkte es drei, vier Tage nach – aber ich ging ja gleich am nächsten Tag wieder hin und bekam eine weitere Vorstellung dazu, am nächsten Tag wieder, und wieder, und wieder. Ich war bald vollkommen fertig, konnte nicht mehr schlafen, die Leitmotive haben sich in meinem Kopf verknotet, ich dachte nur: Was für ein krasser Job. Und habe dem ersten spielfreien Tag wirklich entgegengefiebert.

Aber dann ist etwas Merkwürdiges passiert. Ich bin weggefahren und habe jemandem erzählt, was ich gerade in Bayreuth mache. Irgendwie kamen wir auf die Musik, ich fragte: Kennst du die „Tannhäuser“-Ouvertüre? Ich suchte das Stück auf Youtube heraus, die Musik lief, ich dachte, woah, ist das schön, und im nächsten Moment: Was ist denn hier los? Es ist mein erster freier Tag, ich habe wirklich lange darauf gewartet, und jetzt höre ich das - okay, das ist jetzt also diese Sucht. Meine Kolleginnen hatten mich gewarnt. Ich hatte gedacht, das passiert mir ganz bestimmt nicht. Es gibt kaum jemanden bei uns, dem es nicht so ginge.

"Man ist blau"

Blau sein – das sagen wir übrigens tatsächlich so. Früher trugen die Türsteherinnen blaue Wickelröcke, deshalb hatten sie den Spitznamen „Blaue Mädchen“. Aber intern sagt niemand ernsthaft, sie arbeite als Blaues Mädchen. Das ist eine Daseinsform, keine Tätigkeit. Man ist blau.

So gut wie alle Blauen, mit wenigen Ausnahmen, studieren Musik oder Theater und haben eine große Affinität zu Wagner und Oper allgemein. Das heißt, man lernt auch wahnsinnig viel, indem man sich einfach nur mit den Kolleginnen austauscht. Ich genieße das sehr; wenn ich danach wieder in mein richtiges Leben zurückgekehrt bin, kann ich das meistens nicht so gut.

Die meisten von uns können den Job nur während des Studiums machen. Aber es gibt auch Kolleginnen, die seit 15 Jahren da sind. Andere sind erst seit zwei Jahren da, haben aber schon Expertenwissen und sind Feuer und Flamme. Dadurch, dass wir da sechs Wochen unter uns sind, drehen sich die Gespräche immer schnell um sehr spezifische Themen, die mit den Festspielen zu tun haben, mit den Inszenierungen, mit Ereignissen aus dem Haus, mit Erlebnissen mit Festspielgästen, und mit der Musik und dem Gesang.

"Natürlich reden wir über Sucht"

Und natürlich reden wir über die Sucht. Es gibt Kolleginnen, die sich am freien Tag „Lohengrin“-DVDs ausleihen, es passiert, dass man morgens unter der Dusche Wagner hört und auf der Fahrt zum Festspielhaus, wo man dann mehrere Stunden lang in einer Vorstellung sitzt, wieder. Ich mache das nicht, aber das hat einen anderen Grund – ich hole kurz aus: Es kam wieder ein spielfreier Tag, er lag in einem „Ring“, drei Kolleginnen erzählten, dass sie nach München fahren und sich an der Staatsoper den „Holländer“ ansehen. Alle sagten: Ihr seid doof, ich sagte, ja, Ihr seid aber wirklich doof – am spielfreien Tag! Aber die anderen sagten: Ihr könnt doch nicht mitten im „Ring“ den „Holländer“ hören! Heute verstehe ich das sehr gut. Und wenn ich eine „Parsifal“-Vorstellung habe, kann ich davor kein Einzelteil aus dem „Holländer“ hören – das fühlt sich nicht gut an.

Unsere Altersstruktur entspricht ungefähr der einer Fußballprofimannschaft, von 18 bis Mitte 30. Da ist immer jemand, der einem einen Rat geben kann, und umgekehrt kann man selbst auch anderen weiterhelfen. Das sind tatsächlich die besten Freunde, die ich habe, sie leben über ganz Deutschland verteilt und darüber hinaus. An ziemlich vielen Orten auf der Welt gibt es dadurch wen, bei dem man spontan anrufen und übernachten könnte. Da wird dann auch immer Wagner gehört.

Schon der Geruch des Putzmittels löst Euphorie aus

Und natürlich ist so über die Jahre ein gutes und weit verzweigtes Netzwerk gewachsen. Für eine Vorstellung werden 28 Blaue gebraucht, nicht alle von uns bleiben für die ganze Spielzeit, also ist die Zahl der Kolleginnen, die man trifft, entsprechend groß. Und wir sind ja doch vorrangig Leute mit der Ambition, im Opernbetrieb – im weitesten Sinne – Fuß zu fassen. Ich muss nur überlegen, was die Kolleginnen aus meinem ersten Jahr jetzt machen – alle sind mit dem Studium fertig, viele Kolleginnen haben Gesang studiert und stehen jetzt am Anfang ihrer Karriere, andere arbeiten als Dramaturginnen an verschiedenen Häusern. Eine Freundin ist Regisseurin, ich habe bei einem Projekt in Hamburg mit ihr zusammengearbeitet – und die meisten Leute, die wir dazuholten, kannten wir über andere Blaue. Es gibt jemanden im Orchestermanagement des WDR-Sinfonieorchesters, ich selbst arbeite beim Bayerischen Rundfunk. Das Netzwerk beschränkt sich auf die Gegenwart, es gibt keine Alumni-Treffen und keine Ewige Liste. Aber natürlich passiert es immer wieder, dass man erfährt, eine andere Blaue plant dies oder jenes – und dann fragt man natürlich: Kennst du noch diese eine Kollegin, die vor vier Jahren blau war und heute genau dies oder jenes macht? Dann stellt man den Kontakt her - und wenn man da anruft und sagt, von wem man die Nummer hat, dann hört die andere zumindest mal zu. Und immer wieder kommen Festspielbesucherinnen zu mir, die erzählen, dass sie selbst früher auch fünfzehn Jahre lang als Blaue dabei waren. Ich finde es dann immer sehr spannend zu fragen, was die heute machen. Und ich würde so weit gehen zu sagen, dass ich das, was ich jetzt beruflich mache, wohl niemals machen würde, ohne blau gewesen zu sein.

Am Tag nach dem Ende meiner ersten Spielzeit waren alle Blauen zusammen frühstücken; beim Abschied haben mehrere gesagt: Warte mal ab, du kommst schon wieder. Im nächsten Jahr habe ich pausiert, seit 2009 bin ich jedes Jahr für zwei, drei Wochen dort. Schon der Geruch des Putzmittels im Foyer löst eine solche Euphorie aus, dass ich froh bin, mich an meinen Vorsatz nicht gehalten zu haben. Es gibt so viele Gründe, doch immer wieder hinzufahren.“

Antonia Goldhammer, 32, arbeitet als Moderatorin bei BR Klassik und lebt in München und Amsterdam. Das Gesprächsprotokoll nahm Florian Zinnecker auf.

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