Gedenkansprache von Prof. Dr. med. Joachim Thiery Zum Tode Wolfgang Wagners

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Rede anlässlich der Trauerfeier für Wolfgang Wagner Festspielhaus Bayreuth, 11. April 2010, Prof. Dr. med. Joachim Thiery Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig

 
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„Begnügt euch doch; ein Mensch zu sein!“ (Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise)

„Wolfgang Wagner ist tot.“ Wir sitzen an seinem Tisch, zu Hause in der kleinen Küche. Die Todesmeldung geht über das Notebook an die Presse. Sekunden später reagieren die Nachrichtenagenturen in der ganzen Welt mit Hunderten von Meldungen. „Er starb - ein Mensch wie alle!“, heißt es im „Parsifal“. Aber was für ein Mensch! Einer der eine Jahrhundertgeschichte erlebt, durchlitten und mit gestaltet hat. Ein zutiefst selbstloser, fürsorgender und gerader Mensch, dessen Weisheit und Führung seine Familie, seine Freunde, seine Künstler, seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sein Publikum jetzt so schmerzlich vermissen. Und dabei folgte er nur dem einfachen Satz aus Lessings „Nathan der Weise“: „Begnügt euch doch; ein Mensch zu sein!“

Liebe Katharina, liebe Eva Wagner-Pasquier, sehr geehrte, liebe Frau Verena Lafferentz, hohe Trauergesellschaft Wolfgang Wagners hier im Festspielhaus, draußen vor den Türen und in der ganzen Welt. Wir trauern heute um Wolfgang Wagner, einen Mann, der sich immer zuerst für andere in die Pflicht genommen hat. Es gibt viel Heroismus im menschlichen Leben, Herausforderungen, die Zielen dienen, die unseren Befürchtungen, unseren Sicherheits- und Schutzinstinkten zuwiderlaufen. Hohe Berge zu besteigen, zum Beispiel den Mount Everest, Schwierigkeiten um ihrer selbst willen zu überwinden, in der Verantwortung für andere Mut zu haben und am Punkt äußerster Erschöpfung weiterzugehen. Die Übernahme des Bayreuther Erbes aus der direkten Erfahrung der unmenschlichsten Geschehnisse der jüngeren deutschen Geschichte war die größte Herausforderung, der Wolfgang Wagner sich um ihrer selbst willen gestellt hat. Und dies mit seiner ihm innewohnenden Moralität. Ihm ist gemeinsam mit seinem Bruder Wieland ein die Menschen verbindender Neuanfang der Festspiele gelungen. Wolfgang Wagner hat ein Lebensziel gerade wegen seiner bitteren historischen Erfahrungen mit aller Kraft verfolgt: die Versöhnung, die Internationalisierung und die weltweite künstlerische Akzeptanz der Festspiele und der Werke seines Großvaters.Er hat diesen Teil seines Lebensplans, der ganz der Fürsorge und Verantwortung für das Bayreuther Werk Richard Wagners gewidmet war, in seiner autobiographischen „Lebensakte“  noch selber offengelegt. Er schrieb:„Meine Großmutter Cosima notierte, als ich noch ganz klein war, über mich:  „Mit Rührung betrachte ich dies kleine Wesen, dessen Entwicklung ich nicht erleben soll, das aber – ich bin des’ sicher! In ernster Stunde meinen Segen über sich fühlen wird“. Auf den zu erwartenden Segen der Großmutter Cosima hat sich Wolfgang Wagner jedoch nicht verlassen. Er fuhr fort: „Blicke ich von heute aus zurück, bin ich froh, dass mich nicht etwa Sorge und Furcht, - zu denen es Anlass in Fülle gab (und gibt), - niederdrückten, oder gar aufzehrten. Natürlich habe ich mich gesorgt, und ich mache mir Sorgen, alles andere wäre unmenschlich und dumm. Aber ich darf ohne Übertreibung behaupten, mich in meinem Leben nicht gefürchtet zu haben, gefürchtet im Sinne von Existenzangst, Unterlegenheit und Kapitulation, im Sinne von Kleinmütigkeit und Verzagen. Mein Großvater…sollte mir darin durchaus als Orientierung dienen, nicht in der Anmaßung ihn imitieren zu wollen, wohl jedoch als Vorbild. Hätte ich in meinem Leben primär materiell gedacht und wäre dem betörenden Sirenengesang des Mammons erlegen, hätte ich sehr wahrscheinlich als Wagner-Enkel und Künstler überall in der Welt den Rahm abschöpfen können. Wenn ich dagegen den Sinn meines Wirkens vor allem darin sah und sehe, für…das fortdauernde Weiterbestehen des Unikats „Bayreuther Festspiele“ mit ganzer Kraft einzutreten und Vorsorge zu treffen, so nicht aus egoistischem, „machtgierigem“ Ehrgeiz, sondern aus dem Bewusstsein meiner Verantwortung, die nicht zuletzt auch das Miterleben deutscher Geschichte prägte.“Das Miterleben deutscher Geschichte und tiefer deutscher Schuld, der Teilung und der Wiedervereinigung Deutschlands haben Wolfgang Wagner bis zuletzt bewegt und immer wieder beschäftigt. Im Oktober 1992 durfte ich ihn zur Spielzeiteröffnung der Lindenoper in das wiedervereinte Berlin begleiten. „Parsifal“: Harry Kupfer, Daniel Barenboim, Hans Schavernoch! Grosse Künstler, die er zuvor im Bayreuther „Ring“ zusammengeführt hatte. Nach dem ersten Aufzug gingen wir in der Pause trotz Regens ein Stück hinaus bis hinter das Kronprinzenpalais. Er erzählte von seiner Berliner Zeit, das Anstehen um Brot, die Bühnenausbildung in der Lindenoper und die erste Regiearbeit im letzten Kriegsjahr, eine Oper seines Vaters Siegfried. Er zog mich plötzlich zur Seite, und sagte: „Schauen Sie mal, - hier habe ich gestanden, - und den Dom und alles brennen sehen.“ Nach einer Pause meinte er sichtlich bewegt: „Ist schön, dass jetzt alles wieder zusammenkommt und gut wird“ – dann sagte er schnell „und kommen Sie jetzt, der Kupfer hat sich da noch viel vorgenommen“. Es ist vieles gut, ja sehr gut geworden in Deutschland. Katharina Wagner hat die friedliche Revolution in ihrem eindrücklichen Budapester „Lohengrin“ als das große Wunder des vergangenen Jahrhunderts inszeniert. Ihrem Vater hat das sehr gefallen. Erlauben Sie mir, an dieser Stelle daran zu erinnern, dass gerade Wolfgang Wagner es war, der sich während der zwanzigjährigen politischen Eiszeit mit seiner warmherzigen fränkischen Fürsorge unermüdlich für menschliche Kontakte und das Zusammenfinden von Ost und West eingesetzt hat. Unentwegt hat er das Werk seines Großvaters und das internationale Ansehen der Festspiele dazu genutzt, um junge Künstler und Bühnentechniker aus damals beiden Teilen Deutschlands, aber auch aus ganz Ost- und Westeuropa hier in Bayreuth zusammen zu führen. Zu wenig beachtet ist, dass Wolfgang Wagner 1985 als erster Westregisseur überhaupt, trotz aller damaligen politischen Hindernisse seine Bayreuther „Meistersinger“ den Menschen nach Dresden gebracht hat. Kurz vor der friedlichen Revolution folgte 1988 noch sein „Fliegender Holländer“. Es war für die DDR-Behörden damals schwierig, mit dem Willen, man könnte auch sagen Dickkopf von Wolfgang Wagner umzugehen. Selbstverständlich hat er Mitarbeiter und Freunde aus Ost und West nach der Premiere in sein Hotel eingeladen, das aber für die Dresdner Bürger nicht zugänglich war. Wen wundert es, dass sich Wolfgang Wagner mit heiligem Zorn spät nach Mitternacht durchgesetzt hat und freudestrahlend die vor der Hoteltür frierenden jungen Dresdener selbst hereinholte. Ja, er hat vielen Künstlern aus dem Osten auch später die Treue gehalten. Und er hat vielen persönlich geholfen, den Weg in das vereinte Deutschland zu finden.Fürsorge und Führung der Festspiele, dies gehörte für Wolfgang Wagner immer untrennbar zusammen. Die Sicht eines Jahrhundertmenschen, einer, der seine Wurzeln noch in der Zeit seiner berühmten Grosseltern suchte, aber mit seinem erstaunlich klaren Weitblick bereits tief in das 21. Jahrhundert schaute. Er war damit alles andere als ein „Gralshüter“, sondern dessen Gegenteil: er suchte geradezu die kritische Auseinandersetzung mit dem Werk seines Großvaters in der Gegenwart und weit darüber hinaus. Er hat sich selbst einmal „als Mediator und Moderator“ charakterisiert, „als einer“, wie er sagte „der in der Werkstatt Bayreuth nichts und niemand zusammen zwingt, vielmehr zusammenbringt, um ein wechselseitiges Spannungsfeld immer aufs neue sich erzeugen zu lassen, ein Spannungsfeld, das in den Werken Richard Wagners präformiert ist.“Wolfgang Wagner hat den Berliner Dom zusammenstürzen, das Wohnhaus seiner Familie brennen sehen, seine linke Hand wurde im Krieg so verstümmelt, dass er selber nie mehr musizieren konnte, und nichts war ihm daher so fremd, wie Ideologien oder gar ein rückwärtsgewandtes Denken. Er wollte immer das Neue, das nicht Vorhersagbare auf der Bühne sehen. Er sagte: „Das einzige Ziel all unserer gemeinsam unternommenen Arbeit ist, lebendiges Theater zu machen und dem Publikum Impulse zu selbstständigen Nachdenken zu vermitteln“, das war sein Credo. Es wird anderen überlassen bleiben, den so viele Jahrzehnte europäischer Kulturgeschichte überspannenden Bogen von Wolfgang Wagners künstlerischem Wirken zu bewerten. Es besteht aber heute kein Zweifel: er war der größte Gestalter des Gesamtkunstwerks „Richard Wagner“. Ja, und dies möglicherweise gerade deshalb, weil er sich in seiner Bescheidenheit als Regisseur und Bühnenbildner zurückgenommen hat, „sich eben begnügt hat, ein Mensch zu sein!“. Sein Großvater hat einmal gesagt: „Das Produzieren ist alles, der Ruhm ist nur die Austernschale“, aber auch an der Austernschale lag Wolfgang Wagner nichts. Er hätte ja durchaus die Möglichkeit nutzen können, in Bayreuth nur seine eigene musikdramatische Weltsicht zu gestalten. Stattdessen hielt er sich an Thomas Manns Wort: „Man soll sich nichts ausdenken, sondern soll aus den Dingen etwas machen“. Mit bewundernswerter künstlerischer Entscheidungskraft und hoher Risikofreude gab er oft noch jungen Theatermachern, Dirigenten und Sängerinnen und Sängern die Chance ihrer Bewährung und des Kräftemessens mit den Besten. Er wollte ihre Unbefangenheit und einen kritischen Blick von außen auf das Werk des Großvaters. Und um nochmals mit Thomas Mann zu sprechen: „Alles Stoffliche ist langweilig, ohne eine ideelle Transparenz“, diese Einschätzung hat Wolfgang Wagner geteilt. Ich sehe ihn noch mit Thomas Manns berühmten Sohn Golo, dieser in seinem weißen  Jackett, spät abends in ein langes Gespräch vertieft: „keine Epoche gehorcht einem einzigen Nenner“ hatte Golo Mann festgestellt. Und Wolfgang Wagner hat dies ebenso gesehen. Bewusst hat er sich von den ihm schlecht erscheinenden Moden seiner Zeit nach Kräften unabhängig gehalten. Dagegen hat er sich und andere immer wieder gedrängt, das künstlerisch Etablierte zu hinterfragen und mit einer fast kindlichen Begeisterung sich auch auf Experimente mit dem Werk seines Großvaters einzulassen. Die Türen seiner Festspiele für alles Neue und die Moderne in unserer Welt hat er weit geöffnet. Wolfgang Wagner hatte ein langes und erfülltes Leben. Das für die Öffentlichkeit zum Teil Ungeheuerliche war aber, und das war eben so kennzeichnend für ihn und seinen Willen, dass er sich in seiner Fürsorge für die Festspiele nun gar nicht nach seinem chronologischen Alter richten wollte. So lange es nur seine Gesundheit zuließ, ist er am Steuer geblieben, - und man kann heute sagen, es war gut so.  Er erfüllte quasi einen Satz Voltaires, der schrieb: „Fast alles Große in der Welt ist durch das Genie und die Festigkeit eines einzelnen Menschen bewirkt worden, der gegen Vorurteile der Menge ankämpfte oder ihr welche beibrachte.“  Dieser Kampf gegen Vorurteile gegen Wolfgang Wagner und seine Familie ist, wie wir wissen auch heute nicht ausgestanden und wird wohl auch in Zukunft weiter gehen.Ich weiß nicht, ob Wolfgang Wagner den Aphorismus von Walter Rathenau kannte, der seine Persönlichkeit so gut beschreibt: „Der Mutmensch kennt den Zorn, der Furchtmensch, die Wut und den Ärger.“Und der Mutmensch Wolfgang Wagner war zweifellos ein zorniger Kämpfer gegen Vorurteile! Er hatte fast olympischen Zorn, wenn es um die Fürsorge für seine Festspielfamilie und den hohen Qualitätsanspruch der Bayreuther Kunst ging, so manche Mitwirkende, zuweilen auch das Publikum, aber auch hohe politische Vertreter bekamen dies direkt von ihm zu spüren.Wolfgang Wagner hat auch noch ganz andere Pläne und Gedanken für eine Zeit nach seiner Festspielleitung gehegt. Puccini lag ihm sehr am Herzen, ja, das „Mädchen aus dem Goldenen Westen“ hätte er gerne direkt einmal in den „Red Rocks“ in den Vereinigten Staaten inszeniert. Und es gab dazu konkrete Pläne. Aber auch ein eigener Weinberg, auf einer Insel, in Griechenland vielleicht, das war schon solch ein Traum. Aber doch musste sich er in den letzten Jahren auch mit dem Altwerden und seiner Krankheit  abfinden, und langsam von seinen Liebsten Abschied nehmen. Der Heidelberger Philosoph und frühere Rektor der Universität Leipzig Hans-Georg Gadamer hat noch mit weit über Neunzig einen feinsinnigen Aufsatz zum Altern veröffentlicht, den Wolfgang Wagner auch kannte. Der Philosoph setzt sich darin pointiert mit Gewinn und Verlust des Alterns in unserer, die Lebenserfahrung alter Menschen immer geringer schätzenden Gesellschaft, auseinander. Er beschreibt das Altwerden, wie es Wolfgang Wagner in seinen letzten Jahren selber erfahren hat. “So werden wir wohl alle in unserer Lebenserfahrung ständig beides haben“, sagt der Philosoph: „das Ausreifen unserer Möglichkeiten und das Annehmen des Rückgangs. Jeder ist so alt, wie die Kraft noch da ist, Wünsche zu haben und Ziele zu sehen. Wunschlos glücklich zu sein ist wie ein Ende.“  Wolfgang Wagner erlebte das Altern, im Verlust lieb gewordener Freunde, die vor ihm gegangen sind, das Vergessenwerden in der Öffentlichkeit, das Nachlassen der eigenen Leistungskraft, das Engerwerden des privaten Lebensraums. Auf der anderen Seite standen der kostbare Gewinn der Lebenserfahrung, das Erleben von Weisheit und ihre Weitergabe. Wir sind heute dankbar, dass Wolfgang Wagner uns so lange und bereitwillig an seiner Erfahrung und Weisheit hat teilhaben lassen. Es gäbe unendlich viele Geschichten, die dies illustrieren würden: seine treffsicheren Kommentare, sein schneller Witz, seine hilfreichen Ratschläge und seine hohe menschliche Kompetenz. Sei es mit seiner detaillierten musikalischen Kenntnis, seinem tiefen historischem Wissen und Werkverständnis, sei es in seiner unglaublichen Bühnenerfahrung, sei es auch in seiner ganz persönlichen Lebenserfahrung als Festspielleiter, als Freund, als Vater. So nimmt jeder, der mit ihm persönlich sprechen und arbeiten konnte, im Kleinen und im Grossen etwas von dieser Weisheit mit, die uns Wolfgang Wagner schenken konnte. Doch erlauben Sie mir noch eine Anmerkung Gadamers anzufügen, der abschließend feststellte: „Was man auch zu Vorzügen und Verdiensten des Alters sagen mag, die Jugend ist es, die Zukunft hat“.  Dies hat auch Wolfgang Wagner gesehen.In seinen letzten Monaten gingen die Gedanken Wolfgang Wagners auch in seine Kindheit zurück. Er erzählte mir noch im vergangenen Sommer von dem 60. Geburtstag seines Vaters Siegfried, er war noch keine 11. Für ein größeres Fest war nicht genügend Geld vorhanden, da alles in die Vorbereitung der Festspiele investiert worden war: Arturo Toscaninis und Siegfried Wagners „Tannhäuser“. Der Vater wollte aber unbedingt mit seinen Mitarbeitern privat feiern. So fuhr er mit dem jungen Wolfgang nach Coburg und besorgte dort einen Berg Bratwürste und Grillzapfen (die einen für mich leider unaussprechlichen fränkischen Namen tragen). Wolfgang Wagner lachte im Sommer immer noch über das dann folgende größte Bratwurstfest, das den Festspielhügel völlig in Rauch einhüllte. Der persönliche Kontakt, diese Fürsorge, besonders für die ihm anvertrauten Menschen hat Wolfgang Wagner von seinem Vater, ja letztlich auch von seinem Großvater übernommen.„Bleibt mir gut Ihr Lieben!“, ist das letzte Wort Richard Wagners vor der Eröffnung dieses Hauses gewesen. Und viele Geschichten gibt es um Richard Wagners private Sorge um jeden Mitarbeiter. Fürsorge und Führung waren für Wolfgang Wagner einfach selbstverständlich. Ohne jeden Dünkel interessierte er sich für die Arbeit und das Wohlergehen jeden Mitarbeiters, aber auch seiner Freunde und seiner Festspielbesucher, um immer wieder treu zu helfen und Mut zu machen. In Wolfgang Wagner war große Humanität und Herzlichkeit. Ja, er war tatsächlich im guten Sinne der Patriarch seiner großen Festspielfamilie: seiner Mitarbeiter, seiner Künstler und seines Publikums. Und wie schnell Fürsorge und Führung bei ihm zusammen kamen illustriert eine kleine Geschichte, die sich bei der mit Spannung erwarteten Uraufführung der erstmals mit dem dritten Akt vervollständigten Oper „Lulu“ von Alban Berg ereignet hat. Es war im Februar 1979 in Paris. Patrice Chéreau, Richard Peduzzi, Jaques Schmidt, Pierre Boulez und andere Mitwirkende des legendären Bayreuther „Jahrhundertrings“ hatten die Verantwortung für diese Uraufführung übernommen. Die vielen Ehrengäste wie der damalige Deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, der Österreichische Bundeskanzler, der ehemalige englische Premierminister Edward Heath und viele Künstler, unter Ihnen auch das Ehepaar Wagner saßen aufgereiht genau in der Mitte des Saales, noch in dem alten Palais Garnier der Pariser Oper. Als nun das Weltereignis, die Uraufführung des 3. Aktes der „Lulu“ begann, war diese Reihe leer. Der Intendant Rolf Liebermann hatte seine Ehrengäste versehentlich zu spät aus der Pause entlassen. Nach einigen Minuten strömte die Gruppe hoher Politiker in den dunklen Saal und versuchte recht verzweifelt ihre Plätze zu finden. Da war plötzlich die Stimme von Wolfgang Wagner zu hören:  „Folgen Sie mir, Herr Bundeskanzler und Herrschaften, ich bin hier der einzige, der auch im Finstern seinen Platz findet, das mache ich berufsmäßig.“ so wurde Wolfgang Wagner kurzerhand zum fürsorgenden Platzanweiser. Und diese „Lulu“ wurde zu einem Triumph für das französisch-deutsche Ring-Team Bayreuths, auch ein persönlicher Erfolg für den genialen künstlerischen Mediator und Mentor Wolfgang Wagner. Hohe Auszeichnungen aus aller Welt, der Ehrendoktor der Universität Bayreuth bezeugen die Dankbarkeit, die seinem Lebenswerk, aber auch seiner Person entgegengebracht wurden. Selbstironisch seufzte er einmal: „Alter schützt vor Orden nicht“. Aber die beiden letzten, sehr hohen Auszeichnungen haben ihn sehr berührt: das große Verdienstkreuz mit Stern am Schulterband der Bundesrepublik Deutschland konnte ihm Herr Ministerpräsident Horst Seehofer im vergangenen Herbst noch persönlich in seinem Haus überreichen. Und Anfang Februar erreichte ihn ein persönliches Schreiben des französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy, in  dem er Wolfgang Wagner zum Ritter der französischen Ehrenlegion ernennt. Eine letzte Ehrung für seinen Einsatz um das französisch-deutsche Kulturschaffen und um Europa, die als erster Deutscher Johann Wolfgang Goethe erfahren hat.Die Zeit nach seinem Rückzug aus der Festspielleitung war bald durch schwere Krankheit gezeichnet, die er mit Geduld und seiner ihm eigenen Willenskraft ertragen hat. Die Aufführungen im letzten Jahr verfolgte er zuweilen noch am Bildschirm. Umsorgt hat er so die Sonnentage des vergangenen Sommers und seinen geliebten Garten noch ausgiebig und froh genossen. Auch seine fünf Hunde, die immer zu seinem Leben gehört haben. Hochverehrte Trauergesellschaft Wolfgang Wagners, ich darf an dieser Stelle im Namen der Familie Wagner einen ganz besonderen Dank an die Pflegekräfte richten, die sich so liebevoll, mit hohem persönlichen Einsatz und Kompetenz um den schwerkranken Patienten gesorgt haben. Der Dank, und auch meine ganz persönliche Anerkennung, gelten dem vorbildlichen Einsatz und der kollegialen Zusammenarbeit mit den Ärztinnen und Ärzten aus Bayreuth und dem Universitätsklinikum Leipzig bis zur letzten Stunde. Ich stehe heute hier in der nicht einfachen Funktion als Sprecher der Freunde Wolfgang Wagners. Erlauben Sie mir  noch einen Blick auf die Person zu richten ohne die Wolfgang Wagner seinen letzten Festpielsommer nicht mehr hätte erleben können. Es ist seine jüngste Tochter Katharina. Ich habe als Arzt noch nie jemanden erlebt, der sich mit solcher Hingabe und persönlicher Aufopferung bis zur völligen Erschöpfung rund um die Uhr, über so viele Monate um die Pflege des schwerstkranken Vaters gekümmert hat, wie dies Katharina Wagner tat. Liebe Katharina, ich möchte Dir und Deiner Schwester Eva die Gewissheit auf den weiteren Weg mitgeben, dass euer Vater euch in Zukunft bei allen Aufgaben ebenso beistehen wird. Katharina, Du hast ihm alle Fürsorge und Liebe gegeben und dies hat er gespürt. Es war ein langes Abschiednehmen, über Wochen, Tage, dann waren es Stunden. Wolfgang Wagner ist am Sonntag, dem 21.März, im Beisein von Katharina, seiner so vertrauten Evi, Schwester Melanie und Schwester Renate ruhig und friedlich eingeschlafen. Alle wussten, dass er auf einem Weg ohne Rückkehr war und dass er für sich jetzt seine Ruhe finden würde. Aber das Haus war plötzlich leer und verlassen. Gibt es letzte Worte dieses großen Mannes im Sterben? Nein, die gibt es nicht. Aber es bleibt ein Bild, das er hinterlassen hat: sein letztes Lächeln auf den liebevollen Kuss seiner Tochter.

„Begnügt euch doch, ein Mensch zu sein!“  -  und was für einer er war!

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