Die USA wählen ein neues Staatsoberhaupt: Eine Bilanz von Barack Obamas Amtszeit Was Obama geschafft hat – und was nicht

Von unserem Korrespondenten Jens Schmitz
In seiner Amtszeit gab es einige Amokläufe – jedes Mal war Obama angegriffen. Aber selten so sehr, wie im Januar, als in einer Grundschule Kinder umgebracht worden waren. Er weinte vor laufenden Kameras. Foto: Jim Watson, afp Foto: red

Amerika wählt. Für das 44. Staatsoberhaupt der USA brechen jetzt die letzten Monate im Amt an. Zum Ende seiner Amtszeit finden viele Amerikaner: Die Dinge laufen gut mit ihm. Was Barack Obama geschafft hat - und was nicht.

 
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Four more years“ – für vier weitere Jahre: Wo immer US-Präsident Barack Obama dieser Tage auftritt, schallt ihm oft ein Sprechchor entgegen, der den Abschiedsschmerz vieler Amerikaner schon vor Ende seiner Amtszeit überwältigend wirken lässt. „Ich liebe euch auch“, ruft das 44. Staatsoberhaupt dann lächelnd, entspannt, wie das nur wenige können. Er wirkt mit sich im Reinen. Doch die Kontrolle verliert er nie.

Er wurde als historische Entdeckung gefeiert

Man kann wohl anders nicht Kurs halten auf so einer Achterbahnfahrt: 2004 wurde Obama beim Parteitag der Demokraten als historische Entdeckung gefeiert, 2008 mit messianischen Erwartungen zum mächtigsten Menschen der Erde gewählt. Dann kamen die Wirtschaftskrise, die Totalverweigerung der Opposition, ein entgleister Arabischer Frühling, Amokläufe, Rassenunruhen: Hat dieser Mann zwischendurch selbst noch geglaubt, dass er den Wandel bewirken könnte, den er im Wahlkampf versprochen hatte?

Nichts lockte ihn aus der Reserve - erstmal

In Obamas Heimat Hawaii gibt es ein Sprichwort: Cool head, main thing (Hauptsache kühler Kopf). Schwarze Männer in den USA lernen von klein auf die Notwendigkeit, selbst schreiendes Unrecht mit Pokerface über sich ergehen zu lassen. No-Drama-Obama, wie Wegbegleiter ihn nennen, war nicht aus der Reserve zu locken – weder von politischer Obstruktion noch von offenem Rassismus. Seine kühle Disziplin wurde ihm von Freunden wie Feinden zum Vorwurf gemacht. Aber heute bescheinigen ihm seine Mitbürger nicht nur eine gute Amtsführung, sondern auch hohe Glaubwürdigkeit und Empathie.

Er wollte ein großer Präsident sein

Der 44. US-Präsident ist schon aufgrund seiner Hautfarbe eine historische Figur. Er wollte freilich nicht als bedeutender Schwarzer, sondern als großer Präsident für alle Amerikaner wahrgenommen werden. Für einen dunkelhäutigen Nachfolger wäre das die größte Befreiung. Und seine eigene Identität hat Obama nie klar verortet.

Er wurde zum globalen Hoffnungsträger

In Biografien ist nachzulesen, wie sehr seine Herkunft ihn einst verunsicherte. Kenianischer Vater, weiße Mutter aus Kansas, mit nur einem Elternteil aufgewachsen in Hawaii und Indonesien – wie soll jemand da ein Selbstbild entwickeln?

„Der einzige Weg, mein Gefühl von Isolation zu überwinden, besteht darin, alle Traditionen und Schichten zu absorbieren, sie zu meinen zu machen und mich zu ihren“, schrieb er mit Anfang 20 in einem Brief. Daraus wurde eine bezwingende Wahlkampfgeschichte für ein Land, das sich nach der Überwindung von Gräben sehnte. Obama erinnerte aber nicht nur die USA an die Kraft der Vielfalt. Die Vorstellung, dass Respekt, guter Wille und Rationalität universelle Prinzipien seien, machte ihn zu einem globalen Hoffnungsträger, wie es seit Kennedy keinen mehr gegeben hatte.

Er hat "nur" 22 Prozent seiner Versprechen gebrochen

Was ist davon geblieben, acht Jahre später? Als Sozialhelfer in Chicago hatte Obama sich in den 80ern ein Motto vorgesetzt: „Träume von der Welt, wie du sie dir wünschst, aber behandle sie so, wie sie ist.“ Die überraschende Verleihung des Friedensnobelpreises quittierte er 2009 mit einer Rede, in der er Krieg für bisweilen nötig erklärte. Die Website „Politifact“, die 500 Wahlversprechen Obamas begleitet, befindet heute trotzdem, er habe nur 22 Prozent von ihnen gebrochen.

Er hat die Amerikaner krankenversichert

Das Land steht zweifellos anders da als 2008. Die Arbeitslosigkeit ist auf Vorkrisenniveau gesunken, die Gehälter steigen, neun von zehn Amerikanern sind krankenversichert. Das ist den beiden Mammutprojekten, die Obama gleich zu Beginn stemmte, milliardenschweren Rettungsprogrammen für die Wirtschaft und einer historischen Gesundheitsreform zu verdanken.

Er schaffte Bushs Folterpraktiken ab

Terrorfürst Osama bin Laden ist tot, die überwiegende Zahl der US-Soldaten ist aus Irak und Afghanistan heimgekehrt. Zu Hause fanden sie historisch niedrige Kriminalitätsraten vor. Die Armut im Land geht zurück, mehr Jugendliche als je zuvor machen einen Highschool-Abschluss. 54 Prozent der Menschen sagten in einer aktuellen CNN-Umfrage, die Dinge im Land liefen gut. Obama hat Zustimmungswerte wie Ronald Reagan. Auch weltanschaulich hat die Nation ein neues Gesicht. Nach 150 Jahren werden quer durch den Süden Konföderiertenflaggen eingeholt. Auf die Abschaffung der Homosexuellen- und Frauendiskriminierung beim Militär folgte die Legalisierung der Homo-Ehe. Beim Klimawandel haben die USA eine Führungsrolle übernommen; kein Präsident hat mehr Flächen unter Naturschutz gestellt als Obama. Über Minderheiten und Schwache wird in einer Lautstärke gestritten, die signalisiert, dass diese Themen nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden können. Die Ureinwohner haben Obama zu einem der Ihren erklärt. Er hat mehr Gefangene begnadigt als die vorangegangenen zehn Amtsinhaber zusammen. George W. Bushs Folterpraktiken beim Kampf gegen den Terror wurden abgeschafft. Immer mehr Bundesstaaten legalisieren Marihuana.

Er leistete sich weder politisch noch privat Skandale

Als einer von sehr wenigen hat der 44. US-Präsident sich weder politisch noch privat Skandale geleistet. Das internationale Ansehen der USA hat sich erholt. Dabei wurde die frühe Rede an die muslimische Welt so schnell von den Entwicklungen überholt wie der Versuch eines Neustarts mit Russland und die Vermittlungen zwischen Israel und den Palästinensern.

Er ließ sich auf den Iran und auf Kuba ein

Doch Obama gab nicht auf. Nach 50 Jahren beendete er die Solo-Blockade gegen Kuba, die Eiszeit mit Myanmar und das letzte Embargo gegen Vietnam. Als erster US-Präsident reiste er nach Hiroshima und sprach über den Atombombenabwurf 1945. Er ließ sich auf Verhandlungen mit dem Iran ein und errang eine Vereinbarung, um den Aufstieg des Landes zum Atomstaat zu stoppen. Schließlich überredete er China zum Kampf gegen die Erderwärmung.

Syrien gehört zu seinen Misserfolgen

Ob Russlands Präsident Wladimir Putin sich mit seinen Aggressionen in der Ukraine und Syrien einen Gefallen getan hat, bleibt abzuwarten. Nichtsdestotrotz gehört Syrien zu den Wunden dieser US-Regierung. Bis heute hat sie keine Antwort auf den hunderttausendfachen Tod im dortigen Bürgerkrieg gefunden, so wenig wie der Rest der Weltgemeinschaft. Obama machte Schlagzeilen mit der „roten Linie“, die er für den Fall eines Chemiewaffeneinsatzes durch das Assad-Regime gezogen hatte. Als es zu diesem Einsatz tatsächlich kam, schien er nicht bereit, Taten folgen zu lassen.

Die Schließung Guantanamos erreichte er nicht

Es war nicht das einzige, aber das deutlichste Mal, dass er ins Straucheln geriet. Obama selbst sieht sein größtes Versagen darin, zusammen mit Europa keinen besseren Plan für Libyen entwickelt zu haben. Die Schließung des Anti-Terrorknasts Guantanamo, eine Einwanderungsreform und strengere Waffenkontrollen scheiterten im Kongress.

Die weltweite Datenschnüffelei trübte das US-Image

Zur Anerkenntnis der realen Welt gehört, dass Obama die Bodenkriege im Kampf gegen den Terror durch eine Drohnenflotte ersetzte. Er hält daran fest, dass die Zahl unschuldiger Opfer sonst höher wäre. Die Enthüllung weltweiter Datenüberwachung durch US-Geheimdienste sorgte für eine weitere Imagetrübung vor allem im Ausland. Die Reaktion vieler Staatsoberhäupter legte freilich nahe, dass ihre eigenen Sicherheitskräfte längst profitierten.

Rassistische Polizeigewalt hat er sich nie erträumt

Die Einheit, die Obama seiner Nation versprach, scheint heute aber oft weiter entfernt als 2008. Bewegungen wie die Tea Party, Occupy Wall Street und Black Lives Matter gehen über die alten politischen Lager hinaus. Unruhen wegen rassistischer Polizeigewalt, regelmäßige Amokläufe und ein Nachfolge-Kandidat, der offen vom Ku-Klux-Klan unterstützt wird, waren sicher nicht das, was Obama sich für seine Bilanz erträumt hat.

Ein Viertel der Amerikaner hält ihn für einen Muslim

Vermutlich hat er nicht damit gerechnet, dass ihn zeitweise ein Viertel der Amerikaner für einen potenziellen Muslim aus Kenia halten würden. Als Obama kandidierte, war gerade das erste iPhone vorgestellt worden. Seither entführen soziale Medien und ideologisch ausgerichtete TV-Sender ihre Konsumenten in völlig unterschiedliche Realitäten. Das macht es selbst einem begnadeten Redner schwer, die gesamte Nation zu erreichen. „Es gibt diese Figur namens Barack Obama“, hat der Präsident einmal in vornehmer Milde gesagt, „die bei Fox News irgendwie anders wirkt als bei MSNBC. Ich würde den Barack Obama auf Fox News vermutlich nicht wählen.“

Er besticht durch rhetorische Brillanz und Logik

Dabei hat er sich nicht geschont. Es gibt nicht viele Politiker, die so unbeirrbar die Hand ausstrecken. Obamas Reden bestachen nicht nur durch rhetorische Brillanz und eine selten bezwingbare Logik. Sie demonstrierten ein anhaltendes Werben um Verständigung, das in seiner Inständigkeit selbst Gegner berühren konnte. Es war ein nie ermüdender Kampf um Rationalität und oft genug ein moralischer Appell.

Tränen um ermordete Grundschulkinder

Obama hat sich nicht geschämt, vor der Kamera um die Grundschulkinder von Newtown zu weinen. In Charleston stimmte er nach dem rassistisch motivierten Mord an neun Afroamerikanern in einer historischen Schwarzenkirche „Amazing Grace“ an – womöglich der berührendste Moment seiner Präsidentschaft.

Er zeigte sich immer öfter verletztlich

Trotz oder wegen seiner Abgeklärtheit hat Obama sich immer wieder verletzlich gemacht. Eine der bekanntesten Aufnahmen entstand im Oval Office, als er sich zu einem schwarzen Jungen herabbeugte, damit der prüfen konnte, ob sich das Präsidentenhaar anfühlt wie seines. Obama hat sich nicht nur für die internationalen Rechtsbrüche der Vorgängerregierung entschuldigt, sondern auch seine eigene Unzulänglichkeit diskutiert.

Er rief bei manchen Gehässigkeit hervor

Eigentlich verkörpert er fast alles, was gemeinhin von Politikern verlangt wird. Manche Wegbegleiter wurden dennoch gehässig angesichts der Sicherheit, mit der der Mann über Bilder und Worte gebot. Nicht nur politische Gegner, auch Journalisten, die Abraham Lincoln und John F. Kennedy für ihre hochfliegende Rhetorik preisen, erklärten die Reden des ersten Schwarzen im Weißen Haus für unbescheiden. Gewöhnlich waren sie weiß.

Sogar Kritiker bescheinigen ihm verlässliche Würde

Obama weiß um seine Brillanz, er hat ein klares Missionsbewusstsein. Wer auf seine Präsidentschaft zurückschaut, findet trotzdem keine Momente, in denen er sich über die Sache gestellt hätte. Selbst Kritiker haben Schwierigkeiten, einen Präsidenten zu nennen, der das Steuer mit so verlässlicher Würde gehalten hat. Seine Amtszeit ließ lange gärende Konflikte offen zutage treten. Gleichzeitig war kaum jemand so geeignet, diese Atmosphäre zu balancieren.

Sportlich, cool, optimistisch

Obama beharrte auf zivilen Umgangsformen und einer grundlegenden Humanität; er vermittelte Souveränität und einen kaum zu erschütternden Optimismus. Gleichzeitig war er sportlich, cool und zu Selbstironie fähig wie wenige Präsidenten vor ihm. Zusammen mit seiner Frau Michelle zeigte er seinem Land die erste gleichberechtigte Elternbeziehung im Weißen Haus. Nicht einmal die Kennedys bewegten sich so sicher auf dem Glamourparkett der zeitgenössischen Unterhaltungsindustrie. Internetauftritte führten der neuen Gesundheitsversicherung Millionen junger Einzahler zu. Auch das gehörte zu einer Kommunikationsstrategie, die nichts unversucht ließ.

Seine Präsidentschaft hat großes Potenzial

Charakterlich halten viele Obama für einen der integersten Menschen, die je im Weißen Haus amtiert haben. Auch politisch hat seine Präsidentschaft das Potenzial, zu den Großen aufzuschließen. Dazu müssen Projekte wie die Gesundheitsreform und der Iran-Deal allerdings Bestand haben. Obama glaubt an die Saat seiner Amtsführung bei der jüngeren Generation: „Das wichtigste Thema, bei dem ich mir wirklich sicher bin“, sagte er dieses Jahr über sein Erbe, „ist die Wahrnehmung einer Nation, die alle einschließt – dass jeder ein Teil dieser Geschichte ist. Das ist eine durchgängige Botschaft, der ich durch meine gesamte Präsidentschaft hindurch treu geblieben bin.“