Ein Sänger, ein Video, ein Tattoo: Wie Evgeny Nikitin für die Festspiele zum Problem wurde Versungen und vertan

Florian Zinnecker
 Foto: red

Bevor die Streicher und Bläser im Orchestergraben zum ersten Ton ansetzen, tritt Marius Bolten vor den Vorhang. Bolten leitet das Künstlerische Betriebsbüro der Bayreuther Festspiele; immer, wenn er vor den Vorhang tritt, ist etwas passiert. 

 
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Meist hat ein Sänger entzündete Stimmbänder oder ein gebrochenes Bein, er ist, wie es im Opernhausdeutsch heißt, indisponiert.

Diesmal, vor der Generalprobe des „Fliegenden Holländers“, betrifft es den Holländer. Evgeny Nikitin habe sich entschieden, in Bayreuth nicht zu singen, sagt Bolten. Die Rolle übernehme jetzt kurzfristig Samuel Youn, der am Vortag noch als Heerrufer in der „Lohengrin“-Generalprobe auf der Bühne stand. Er habe nur eine kurze Einweisung des Regieteams erhalten, dies sei nun seine erste Probe.

Das Wort „Hakenkreuz-Tattoo“ fällt nicht. Die, die die Probe gesehen haben, sagen, Youn habe sich wacker geschlagen.

Evgeny Nikitin ist um diese Zeit schon nicht mehr in Bayreuth. Am Tag der Generalprobe, vier Tage vor der Premiere der Neuproduktion, die zugleich die 101. Bayreuther Festspiele eröffnen wird, legte er sein Engagement nieder. Bayreuth sei damit haarscharf an einem Skandal vorbeigeschrammt, heißt es in den Nachrichten. Das stimmt aber nicht. An einem Skandal führt zu diesem Zeitpunkt kein Weg mehr vorbei.

Am Samstagmorgen haben Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier Evgeny Nikitin zum Gespräch gebeten. Die „Bild am Sonntag“ hatte angefragt, ob das Zeichen, das in einem Video aus Nikitins Metal-Phase auf seiner Brust zu sehen ist, tatsächlich ein Hakenkreuz sei. Ob er wisse, was es damit – und mit den Runen drum herum – auf sich habe. Und: wie er dazu stehe. Das Hakenkreuz ist heute auf Nikitins Brust nicht mehr zu sehen, es ist überstochen, mit einem großflächigen bunten Wappen.

Festspielsprecher Peter Emmerich sagt am frühen Nachmittag am Telefon, die Festspielleiterinnen hätten Nikitin „in der gebotenen Deutlichkeit die Sachlage auseinandergesetzt“ und ihm auch die Meinung gesagt. Welche Meinung, sagt er nicht, es lässt sich auch nicht feststellen, wie das Gespräch verlief, nur das Ergebnis ist bekannt.

Nikitin verfasst auf Englisch eine Erklärung, in der er die Tätowierungen als „großen Fehler in seinem Leben“ bezeichnet. Er habe sich darum entschieden, auf seinen Auftritt bei den Bayreuther Festspielen zu verzichten. Die Erklärung wird sogleich übersetzt und an die Nachrichtenagenturen gegeben. Um 13.46 Uhr meldet dpa: „Holländer-Sänger Nikitin sagt Bayreuth-Auftritt ab“; die Meldung läuft im Radio in den 14-Uhr-Nachrichten. Zweieinhalb Stunden später, um 16.20 Uhr, verschicken die Festspiele eine offizielle Mitteilung, der erste Satz lautet: „Evgeny Nikitin hat auf seinen Auftritt bei den Bayreuther Festspielen verzichtet.“ Das Produktionsteam sehe sich großen Herausforderungen ausgesetzt, „Holländer“-Regisseur Jan Philipp Gloger kündigt an, die künstlerische Beschädigung seiner Inszenierung werde bis Mittwoch nicht mehr zu beheben sein.

Zum Rücktritt gedrängt worden sei Nikitin nicht, sagt Emmerich, und auch nicht dazu bewogen worden. „Das ging von ihm aus.“ In einem Interview hatte Nikitin vor einigen Tagen erzählt, wie er überhaupt nach Bayreuth kam: Es gab ein Vorsingen für die Rolle des Holländers, er, Nikitin, sei nicht eingeladen gewesen, aber weil sein Manager gehört habe, dass die Rolle noch nicht vergeben sei, habe er Nikitin angemeldet und nach Bayreuth geschickt. Er sei auf die Bühne gegangen und habe gesungen, im Zuschauerraum saßen Katharina Wagner, die Festspielleiterin, und Christian Thielemann, ihr musikalischer Berater und Dirigent des neuen „Holländers“. Die beiden hätten getuschelt, während er sang, erinnert sich Nikitin. Dann habe Thielemann gesagt: Wir nehmen Sie. Und sei verschwunden, zusammen mit Frau Wagner, noch ehe er irgendetwas sagen konnte. Seine Stimme habe überzeugt. Es sei sein großer Traum gewesen, in Bayreuth zu singen. Dieser Traum währte bis zum Anruf der „Bild am Sonntag“.

Am Samstagnachmittag gibt Emmerich dem Deutschlandfunk ein Interview. Niemand kontrolliere bei einem Sänger Körperbemalungen, Tätowierungen oder Ähnliches, „das kann man nicht machen“, sagt Emmerich darin. „Man kann auch nicht die Gesinnung eines Sängers überprüfen.“ Regisseur Jan Philipp Gloger sei tief enttäuscht, die Festspielleitung regelrecht entsetzt – und betone mit allem Nachdruck, „dass das überhaupt nicht geht. Dass man das in Bayreuth nicht machen kann, einem Ort, der durch die Geschichte ohnehin sehr stark kontaminiert ist“.

Das Video, das Evgeny Nikitin in der fraglichen Optik am Schlagzeug zeigt, findet sich auf der Internet-Plattform Youtube; es wurde eingestellt im Oktober 2010. Man muss nur „Evgeny Nikitin“ in die Suchleiste eingeben, dann findet man es.

Nach der Generalprobe, am späten Samstagabend, teilt Peter Emmerich mit, Samuel Youn werde definitiv die Premiere und auch die weiteren Vorstellungen singen. Am Sonntagmorgen liegt die „Bild am Sonntag“ in der Bahnhofsbuchhandlung. Auf dem Titel: „Die kranke Welt des Batman-Killers“, „Hannelore Elsner zum 70.“, „Nazi-Tattoo-Skandal in Bayreuth“. Da ist er, der Skandal.

Foto: dpa

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