Thema Trockau: (Ohn-)Macht des Netzes

Von Joachim Braun

Wo ist die Grenze? Ab wann bekommt eine Berichterstattung voyeuristische Züge? Wie tief dürfen wir als regionale Tageszeitung überhaupt recherchieren? Ab wann werden persönliche Rechte verletzt? Eine schwierige Diskussion, vor die uns diese Woche der Fall einer 16-Jährigen gestellt hat, die beim Sex auf dem Disco-Parkplatz in Trockau gefilmt wurde und behauptet, vergewaltigt worden zu sein.

 
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Die Diskussion darüber findet sehr kontrovers auf Facebook statt, aber auch in der Redaktion. Selbst in der Leitungsebene gibt es höchst unterschiedliche Meinungen darüber, wie weit der Kurier gehen darf oder gar muss. Die Bedenken betreffen vor allem das Alter der jungen Frau und die fehlende Gewissheit, was wirklich passiert ist. Hätten wir mit einer Veröffentlichung warten müssen, bis die Polizei den Sachverhalt juristisch wasserdicht ermittelt hat?

Ich meine Nein. Ich gebe zu, dass ich das vor fünf Jahren vermutlich noch ganz anders gesehen hätte. In der Zwischenzeit aber hat sich durch das Aufkommen mobiler sozialer Medien wie Facebook, WhatsApp und Twitter beinahe alles verändert. Um das mal konkret zu machen: Als wir am Dienstag erstmals über die Parkplatz-Affäre berichteten (beziehungsweise Montagabend auf unserer Internetseite), wussten schon Tausende Menschen Bescheid über das, was Samstagnacht vor der Trockauer Disco passiert war. Mehrere Besucher hatten mit ihren Handys den öffentlichen Sex gefilmt und minutenlange Videos über die sozialen Medien verbreitet. Innerhalb von wenigen Stunden wanderten die Filme von Handy zu Handy – und das nicht nur zwischen Jugendlichen.

Tageszeitung hat ihre jahrhundertealte Rolle als Aktualitätsmedium in der digitalen Revolution verloren. Stärker denn je müssen professionelle Journalisten einordnen, Hintergründe liefern. Das haben wir in dieser Geschichte versucht, die für uns nur deshalb nicht als Privatsache in den Papierkorb wanderte, weil die Polizei wegen möglicher Straftaten Ermittlungen aufgenommen hat.

Internet ist Neuland, hat Bundeskanzlerin Merkel kürzlich gesagt und wurde dafür verhöhnt und verspottet. Doch sie hatte Recht, es fehlt uns an Kompetenz beim Umgang mit neuen Medien. Was dem amerikanischen Geheimdienst NSA richtigerweise vorgeworfen wird – er mache, was technisch möglich ist – beweist sich auch bei den Handyfilmern auf dem Trockauer Parkplatz. Es geht ganz leicht, und es kostet keinerlei Mühe, ein Video zu drehen und es hochzuladen. Darum wird’s gemacht. Die Frage nach der Moral stellt sich erstmal gar nicht. Auch nicht bei vielen Empfängern des Videos, die durch die im Netz allgegenwärtigen Darstellungen von Sex abgestumpft werden.

Man mag dies beklagen. Man mag auf die Zeitung schimpfen, die sich von dieser Entwicklung nicht abkoppelt. Aber das wird nichts helfen. Die digitalisierte Welt ist Realität. Je eher wir uns den Folgen stellen, umso besser. Sorgfältige Recherche und Wahrheitstreue bleiben für uns Zeitungsleute trotzdem die wichtigsten Prinzipien.