Suchtkranke sind "gefangen wie Sklaven“

Der Bayreuther Suchtmediziner Markus Salinger. Foto: red Foto: red

Online-Abhängige und der totale Kontrollverlust – für Markus Salinger ist das ein immer größer werdendes Thema. Der Suchtmediziner am Bezirkskrankenhaus in Bayreuth spricht erschreckende Beispiele an. Aber nicht jeder, der öfter mal das Smartphone aus der Hosentasche zieht, ist gleich süchtig. Dazu gehören noch andere Merkmale.

 
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Herr Salinger, viele Leute greifen täglich zur Schokolade. Sind diese Leute süchtig?

Markus Salinger: Das würde ich nicht sagen. Es gibt Menschen, die haben eine Affinität zu gewissen Dingen. Eine Sucht entwickelt sich mit der Zeit. Sie baut sich bei exzessivem Konsum auf.

Wie hat sich der Begriff „Sucht“ in den vergangenen Jahren verändert?

Salinger: Wir erleben eine starke Veränderung. Sucht wurde klassischerweise immer mit Alkohol oder illegalen Drogen in Verbindung gebracht. Heute ist das anders. Die Verhaltenssüchte sind ein großes Thema geworden. Sie werden in dieser Zeit vor allem durch die sozialen Medien beeinflusst.

Sie meinen Facebook und Co.?

Salinger: Zum Beispiel. Menschen nutzen Netzwerke, um Kontakte zu pflegen. Für sie ist das ganz normal. Das Internet bietet viele Möglichkeiten. Gerade bei jungen Leuten ist es auch in der Freizeit fester Bestandteil des Lebens. Da kann sich eine Abhängigkeit natürlich schnell entwickeln – übrigens muss das nicht immer nur die sozialen Medien betreffen. Computerspielsucht, Pokerspielsucht, Porno-Sucht – all das ist denkbar.

Warum sind Computerspiele für jüngere Leute so attraktiv?

Salinger: Das hat viel mit Online-Vernetzung zu tun. Wer online spielt, spielt meistens mit anderen. Diese Nutzer haben das Gefühl, dass sie ständig präsent sein müssen, sonst könnten sie ja etwas verpassen. Für diese Nutzer ist Computerspielen aber auch so etwas wie eine Flucht aus der Realität in eine andere Welt.

Ist die reale Welt denn so schwer zu ertragen?

Salinger: Menschen, die zwanghaft vor dem Computer sitzen und zocken, haben meistens schon in gewissen Bereichen Probleme. Sei es in der Familie, mit Freunden oder mit sich selbst. Ich würde diese Menschen aber nicht alle als Verlierer im Alltag bezeichnen. Das wäre hart und falsch. Man darf eines nicht vergessen: Nicht jeder, der hin und wieder ein Computerspiel spielt, ist direkt süchtig.

Sind, wenn es um derartige Süchte geht, tatsächlich nur jüngere Menschen anfällig?

Salinger: Nein. Das wird oft so dargestellt, allerdings sind auch bei Erwachsenen teils erschreckende Entwicklungen zu erkennen. Sie sind oft schlechte Vorbilder. Mütter schieben mit einer Hand ihre Kinder im Wagen vor sich her und haben gleichzeitig in der anderen Hand ihr Smartphone vor dem Gesicht. Man kann sich vorstellen, dass da sehr wenig Interaktion zwischen Mutter und Kind stattfindet.

Handelt es sich dabei um Einzelfälle?

Salinger: Das würde ich so nicht sagen. Bei einem Silvester-Essen habe ich einmal eine interessante Beobachtung gemacht: Eine sechsköpfige Familie kam an ihren Tisch – und jeder zückte nach dem Hinsetzen sofort sein Handy. Da waren alle Altersklassen vertreten. Es wirkte sehr befremdlich.

Spricht man in ein paar Jahrzehnten vielleicht überhaupt nicht mehr miteinander?

Salinger: Wer weiß. Die Leute telefonieren heute ja auch schon weniger. Fast alles geschieht in Chats.

Wie können Sie und Ihre Kollegen der Entstehung einer Online-Sucht vorbeugen?

Salinger: Zunächst einmal ist es gut, dass aktuell in der Forschung einiges in Bewegung ist. Wir befinden uns in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema. Wir machen aber auch darauf aufmerksam, dass wir einen kritischen Umgang mit diesem Thema unbedingt brauchen. Alte Forschungsergebnisse sind für neue Verhaltensauffälligkeiten nicht mehr oder nur teilweise gültig. Das wissen wir. Deshalb tut sich gerade ja auch so viel. Wir weisen aber auch darauf hin, dass nicht alles eine Sucht ist. Zu einer Sucht gehören beispielsweise ausgeprägte Entzugssymptomatiken – und die zeigt nicht jeder. Es gibt bis hin zur tatsächlichen Abhängigkeit viele Stufen.

Ist die Forschung im Kampf gegen Online-Sucht ab einem gewissen Punkt machtlos?

Salinger: Wir müssen informieren und aufklären. Das ist erst einmal ganz wichtig. Aber jeder einzelne Mensch muss sich auch mit sich selbst beschäftigen. Es geht darum, nachzudenken und sich mit seiner eigenen Situation auseinanderzusetzen. Selbsttests können bereits helfen, Anzeichen von Abhängigkeit zu erkennen. Viele merken es auch selbst und melden sich bei Ambulanzen für Online-Süchtige.

Kann man dem Internet noch entkommen?

Salinger: So richtig wird man ohne Internet nicht leben können. Viele müssen es ja täglich im Beruf nutzen.

Wie will man denn Internetsüchtige heilen, wenn sie in der Arbeit täglich vor dem PC sitzen?

Salinger: Niemand ist pauschal internetsüchtig. Man muss schauen, wo im Speziellen die Sucht liegt. Ein Porno-Süchtiger hat kein dringendes Verlangen nach „Bunte“- oder „Spiegel“-Webseiten.

Es gibt professionelle Online-Pokerspieler und professionelle E-Sportler, die vor dem PC ihr Geld verdienen. Sind solche Leute automatisch süchtig?

Salinger: Es ist erst einmal egal, ob das ihr Beruf ist oder nicht. Diese Menschen müssen abschalten und offen für andere Dinge sein können, müssen auch noch ein reales Leben mit sozialen Interaktionen leben, sonst sind sie süchtig. Was man in Japan und Südkorea sieht, ist erschreckend. Online-Spieler kippen teilweise vor dem PC um und sind tot. Ich habe auch schon jemanden behandelt, der während des Online-Spielens in den Papierkorb gestuhlt hat, weil er seinen Level im Spiel partout nicht aufgeben wollte. Nichts ist unmöglich! Solange die soziale Wahrnehmung aber funktioniert, muss man nicht von Sucht sprechen. Schließlich gibt es auch professionelle Tennisspieler, die täglich zum Schläger greifen. Und auch die sind nicht automatisch abhängig.

Kann eine Sucht eigentlich auch etwas Positives an sich haben?

Salinger: Nein. Wer eine Abhängigkeit zu einer Sache entwickelt, bekommt irgendwann auch Entzugserscheinungen. Betroffene haben in diesen Phasen nicht mehr die vollständige Kontrolle über sich selbst, sie sind gefangen wie Sklaven in der eigenen Sucht. Das ist für mich alles andere als positiv.

Haben wir es in Zukunft mit ganz anderen Formen von Sucht zu tun?

Salinger: Alles kann zu einer Sucht werden – vielleicht sind wir bald von künstlicher Intelligenz abhängig. Womöglich haben wir irgendwann keinen echten Partner mehr, sondern einen Humanoiden. Ich würde nichts ausschließen, will mich aber auch nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Wichtig ist, dass wir die aktuellen Entwicklungen in Medizin und Forschung nicht verschlafen und uns mit dem menschlichen Verhalten und seinen Spielarten auseinandersetzen.

Das Gespräch führte Hannes Huttinger

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