Grauzone ersetzt Wahrheit
Heike Hartmann ist die sangessichere Mutter des Messwein nippenden Jungen (der nicht vorkommt). Ihre Rolle, irgendwo zwischen Empörung und Pragmatismus, legt nahe, wie Eltern dem Missbrauch Vorschub leisten: dem am Ruf eines Menschen oder dem am Kinde. In diesem Stück geht’s nicht um Wahrheit, wie gesagt. Sondern um Grauzonen. Und wie man sie interpretiert. Welche Verantwortung darin für jeden liegt – du sollst kein falsches Zeugnis geben! -, das beschäftigt die Zuschauer. Wer sendet was aus, und wie empfängt man die Signale? Während des Stückes, und sicher noch lange danach. Im Hintergrund schimmern die Buchstaben eines anderen Gebotes durch: Du sollst dir kein Bildnis machen, und schon gar nicht auf der Grundlage von Gerede.
Alle Darsteller sprachen mitunter ein wenig bemüht, eine kleine Schwäche, die sich auswachsen wird – die Anspannung bei der Premiere verhindert manchmal die schauspielerische Beiläufigkeit, die den Zuschauer vergessen lässt, dass er auf eine Bühne blickt.
Sprungturm oder Kanzel?
Vor Rätsel stellt einen das seltsam unentschlossene Bühnenbild von Ruth Pulgram. Zur rechten sehen wir das Büro der Schulleiterin, erhöht auf einem Podest, mit einem geradezu lächerlich winzigen Pult – so stellt man sich eher das verglaste Büro eines Buchhalters in der Mitte einer Fabrik vor. In der Mitte ist die Kanzel zu sehen, von der Vater Flynn so lebensnah predigt. Eine weiß eingerahmte Kanzel, als wollte Pulgram da nochmals an die jockeymützenähnlichen Kopfbedeckungen der Schwestern erinnern. Kann man schon machen. Das Metallgerüst darunter verleiht dem Ganzen dann aber doch die Anmutung eines Tennis-Hochsitzes oder Sprungturms.
Nachbilden im kleinen will Pulgram den Garten. Ein Bänklein ist da, sogar ein Stück gekiesten Weges, eingerahmt von einem Metallzaun. Man hätte das alles weglassen können, hätte auf die bei aller Holzschnittartigkeit doch gut angelegte Choreographie des Stückes vertrauen können. Ja, eine weitgehend leere Bühne hätte einen noch stärker angehalten, sich auf die Dialoge zu konzentrieren.
So aber grübelt man: Das da soll eine Kanzel sein. Aber wer hätte schon mal einen Prediger von so einer Kanzel sprechen gesehen? Dieses Bühnenbild ist weniger Spielfeld denn Hindernisparcours.
Viel Spaß hatte die Dame am Einlass wünschen wollen. Den hatte man natürlich nicht. Also nicht Spaß im Sinne von Gaudi. Was man hatte: einen insgesamt konzentrierten, klug changierenden Abend, der einen an die Grenze seiner Fragen und Gewissheiten führte. Einen Abend, der sich weit kürzer anfühlte, als er in Wirklichkeit war. Die Entscheidung Anja Dechant-Sundbys, keine Pause einzubauen, war eine gute. Das Stück wird gut laufen, kein Zweifel.
Nächste Termine: 8., 10., 17., 20., 30., 31. Dezember.