Staatsbegräbnis statt Freudenfest

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"Wir haben 70 Jahre den Frieden geschafft!" Benjamin De Pellegrins Augen leuchten. Das ist doch ein Fest. "Darauf können die Deutschen stolz sein." Doch die Wiedervereinigungsfeier am Fuß der Berliner Brücke erinnert eher an ein Staatsbegräbnis. Ein Häuflein Unverzagter trotzt am Tag der deutschen Einheit dem Wind. Und nach knapp einer Stunde geht man auseinander. "Die Wiedervereinigung ist ein Geschenk", hat Festredner Prof. Wolfgang Protzner vorher betont. "Und über Geschenke freut man sich."

 
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Dass dem im Deutschland von heute nicht so ist, beklagt Protzner. Es sei erbärmlich, dass sich Europa nur noch über Geld definiere. "Eine Gesellschaft, die immer nur ihre eigenen Vorteile sucht ist eine jämmerliche Gesellschaft." Europa müsse sich neu strukturieren und mit Emotionen füllen. Die europäische Idee müsse neu aus Kraft und Liebe geboren werden, fordert er.

Der 16-Jährige: Das ist auch Benedikt Schindeles Anliegen. Der 16-jährige Schüler bläst an diesem kalten Vormittag die Posaune. Zusammen mit Rainer Streit von der Musikschule Kulmbach begleitet er den Gesang der Nationalhymne. Schindele möchte später einmal auch im Ausland studieren. Und die Wiedervereinigung Deutschlands sei ein Grundstein für das jetzige Europa. Benedikt Schindele, der bereits grenzenlos aufgewachsen ist, hat aber auch seine Heimat im Blick. "Nur 30 Kilometer von hier ging es damals nicht mehr weiter." Die Tragweite dessen, was sich vor 26 Jahren in Deutschland ereignete, ist ihm sehr wohl bewusst. "Für mich ist es eine Ehre, hier spielen zu dürfen."

Der 72-Jährige: Benjamin De Pellegrin ist heute 72 Jahre alt, und für nichts mehr dankbar als für 70 Jahre Frieden. Seit 1960 lebt er in Deutschland und die längste Zeit davon hat er in Kulmbach verbracht. Sein Eiscafé kennen alle. Jahr für Jahr kommt er zur Wiedervereinigungsfeier an die Berliner Brücke. Denn für ihn ist der 3. Oktober ein einmaliges Geschenk. "Ich sah, dass wir die Zukunft jetzt anders gestalten können. Und das sollte man doch ganz anders feiern. Die Deutschen sollten stolzer auf das Erreichte sein und mit viel mehr Bewusstsein feiern." Auch Stadt- und Kreisrat Thomas Nagel fordert das: "Wir sollten endlich den Mut haben, zu sagen, was wir in Deutschland alles erreicht haben." Der Wind verweht den spontanen Applaus für diese Aussage. Deutschland sei eines der schönsten und reichsten Länder, aber die Menschen seien nur noch Besitzstandswahrer mit Anspruch auf immer mehr. Weit entfernt von den Ideen, die damals, vor 26 Jahren die Menschen auf die Straßen der DDR getrieben hatten: "Wir sind das Volk!"

Nach einer Dreiviertelstunde ist die Feier vorbei. Drei Streifenbesatzungen, die für die Zeit die Berliner Brücke abgesperrt haben, fahren weg. Der kleine Generator, der für die Stromversorgung gesorgt hat, brummt nicht mehr. Die Gäste gehen ihrer Wege. Es ist Mittag. Dunkle Wolken hängen am Himmel, ein kalter Wind bläst. Menschenleer die Stadt.

               

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