Sonderauftrag: Hilfe für Verbrechensopfer

Von Peter Rauscher
Michaela Reiß vor dem Logo des Zentrums Bayern Familie und Soziales (ZBFS): 16 Jahre lang war sie als Sonderbeauftragte Ansprechpartnerin für Opfer von Gewaltverbrechen. Foto: Andreas Harbach Foto: red

Opfern von Gewalttaten steht in Deutschland Entschädigung zu. Wer Zeuge von Mord war, schwer verletzt oder vergewaltigt wurde, dem helfen beim Antrag auf Entschädigung Sonderbetreuer des in Bayreuth angesiedelten Zentrums Bayern Familie und Soziales (ZBFS). Wo Bürokratie auf die Opfer menschlicher Abgründe trifft. 

 
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Michaela Reiß (44) arbeitete 16 Jahre lang als Sonderbetreuerin beim ZBFS in Bayreuth, zusammen mit einem Kollegen war sie bis zum Jahr 2015 zuständig für ganz Oberfranken. Ihre Aufgabe:  Menschen, die nach traumatischen Erlebnissen damit überfordert sein könnten, zu ihrem Recht zu verhelfen – was den Anspruch nach dem Opferentschädigungsgesetz betrifft (siehe Stichwort unten). Weil diese Menschen in einer extremen Lebenssituation von sich aus oft nicht daran denken, entsprechende Leistungen beim ZBFS zu beantragen, werden sie darauf aufmerksam gemacht: von der Polizei, die beim Ausfüllen von  Kurzanträgen hilft, ebenso wie von der Opferhilfeorganisation Weißer Ring.

Auf Wunsch Beratung zuhause

Manchmal gehe aus Anträgen auf Schwerbehinderung hervor, dass ein Gewaltverbrechen Ursache war, und mitunter sei sie auch selber aktiv geworden, habe Opfern einen Brief geschrieben und sich vorgestellt, wenn sie von solchen Gewalttaten in der Zeitung las, sagt Reiß dem Kurier. Für ihre Arbeit kam sie auf Wunsch zu den Antragstellern nach Hause, nahm sich Zeit, füllte mit ihnen Behördenanträge aus und hörte dabei Geschichten aus der Region, die ihr starke Nerven abverlangten.

Irgendwann muss es raus

„Die meisten Opfer, mit denen ich zu tun hatte, waren Frauen, die sexuell missbraucht wurden. Oft Frauen mittleren Alters, die schon in ihrer Jugend oder Kindheit Opfer wurden“, berichtet Reiß. Details zu Fällen darf sie wegen ihrer Schweigepflicht nicht nennen. Nur soviel: Missbrauch sei früher oft unter den Teppich gekehrt worden. Selbst Mütter hätten ihren missbrauchten Kindern nicht geglaubt oder hätten sich nicht getraut, dem Verbrechen nachzugehen. „Das kommt bei diesen Frauen nach Jahren wieder hoch, irgendwann muss es raus und aufgearbeitet werden“, sagt Reiß.

Das Herz ausschütten

Ein Problem bei länger zurückliegenden Missbrauchsfällen: Wenn die Tat nicht bei der Polizei angezeigt wurde und auch keine ärztlichen Befunde vorliegen, die die Gewalttat dokumentierten, habe sie in Befragungen zu klären versucht, wie nachvollziehbar die Berichte waren. Dazu habe sie nach Details zu Ort und Zeit der Tat gefragt und das Einverständnis eingeholt, Zeugen zu befragen, denen sich das Opfer offenbart hatte. Es habe auch Fälle gegeben, in denen die Anträge zurückgezogen wurden. „Aber diese Menschen konnten dann wenigstens mir gegenüber ihr Herz ausschütten und waren schon dadurch erleichtert“, sagt Reiß. Ob eine Entschädigung am Ende gezahlt oder abgelehnt wurde, hatte dann nicht sie zu entscheiden, sondern Kollegen im Amt.

Eltern sind fast zerbrochen

Dreimal in ihren 16 Jahren als Sonderbetreuerin war Michaela Reiß mit Gewalttaten konfrontiert, bei denen Kinder starben. „Die Eltern sind daran fast zerbrochen“, sagt sie. Kann man solchen Menschen überhaupt noch irgendwie helfen? Michaela Reiß hörte sich ihre Geschichten an, war einfach für sie da. Sie vermittelte Kontakte zum Weißen Ring, verwies an Therapeuten oder die Traumaambulanz des Bezirkskrankenhauses. Und sie tat, was sie in ihrer Funktion tun konnte, um die Hinterbliebenen  wenigstens materiell etwas aufzufangen:  Opfer nach dem Gesetz ist nicht nur, wer selber Gewalt erleidet, sondern auch, wer als Zeuge oder Angehöriger einen Schock erlitten hat.

Umzug weg vom Tatort

Reiß beantragte Unterstützung  für einen Vater,  der nicht mehr so viel wie vorher arbeiten konnte, nachdem sein Kind umgebracht worden war. Für eine Mutter, die sich beinahe selbst das Leben genommen hätte, organisierte sie einen Umzug in eine neue Wohnung, weil in der alten alles an die getötete Tochter erinnerte.  Ebenso half  sie bei der Finanzierung eines Umzugs, nachdem eine Mutter in ihrem  Haus getötet worden war. Die Eltern der Toten  mussten sich um die verwaisten Kinder kümmern, hatten aber kein Geld. Der Vater, der die tote Tochter gefunden hatte, war seelisch nicht mehr in der Lage, das Haus - den Tatort - zu betreten. Viel später, als die Großeltern längst wieder aus Bayreuth fortgezogen waren, bedankten sie sich telefonisch bei der ZBFS-Sonderbeauftragten.

„Meine Gespräche mit den Opfern endeten oft mit Tränen“, sagt Michaela Reiß, selber Mutter von zwei Töchtern. 2015 sei sie an anderer Stelle im ZBFS gebraucht worden, und so endete ihre Tätigkeit als Sonderbeauftragte. So schwer und mitunter belastend  die Aufgabe war: „Ich hätte das gerne weitergemacht.“

Stichwort: Opferentschädigung

Nach dem Gesetz hat Anspruch auf Opferentschädigung, wer Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen, tätlichen Angriffs geworden ist. Nach dem Terrorangriff auf Djerba, bei dem 2002 auch 14 Deutsche starben,  wurde das Gesetz dahingehend ausgeweitet, dass auch Deutsche, die im Ausland Opfer wurden, entschädigt werden. Voraussetzung für Entschädigung ist, dass gesundheitliche Schäden erlitten wurden.  Im Falle dauerhafter Schädigung ermittelt ein ärztlicher Dienst den Grad der Schädigungsfolgen. Bei einem Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 30 gibt es einen Anspruch auf Rente.  Die Rente wird jährlich angepasst.  Sie ist nicht so hoch, dass man davon leben könnte, sondern soll für Mehraufwendungen durch eingetretene Gesundheitsschäden entschädigen. Bei einem Schädigungsgrad von 30 sind es zum Beispiel 141 Euro im Monat.

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