Einspringen als "Fliegender Holländer" war für Samuel Youn der Durchbruch "Sie sagten nur: Kommen Sie schnell!"

Von Florian Zinnecker

Auch in diesem Jahr kann man über Samuel Youn kaum reden, ohne einen anderen Namen zu nennen: Evgeny Nikitin. Vier Tage vor der Eröffnungspremiere 2012 war Nikitin von der Partie des „Fliegenden Holländers" zurückgetreten – wegen einer Tätowierung auf der Brust, die frappierend einem Hakenkreuz ähnelt. Der Mann, der die Rolle übernahm, war Samuel Youn. Die Rolle war sein Durchbruch in Bayreuth. Ein Interview, ein Jahr danach.

 
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Herr Youn, wie geht es Ihnen?
Samuel Youn: Gut, danke. Ich brauchte ein bisschen Zeit, um wieder in die Bayreuther Atmosphäre hineinzufinden. In diesem Jahr können wir langsam aufbauen, bis zum Ziel.

War ihr Gefühl bei der Ankunft diesmal anders als im vergangenen Jahr? Fühlt sich Bayreuth jetzt anders an – nach allem, was 2012 hier passiert ist?
Youn: Da war schon ein Unterschied. In diesem Jahr wartet eine neue Herausforderung: die TV-Aufzeichnung des „Holländers". Wir müssen noch differenzierter sein, müssen viele Details noch genauer vorbereiten, besonders ich als Sänger der Titelpartie. Das soll nicht heißen, dass ich den Heerrufer auf die leichte Schulter nehme. Aber für den „Holländer" brauchen wir einfach sehr viel Konzentration.

Sie haben diese Partie am 21. Juli 2012 übernommen. Morgens trat Ihr Kollege Evgeny Niktin zurück, abends standen Sie auf der Bühne. Was ist dazwischen passiert?
Youn: Am Vormittag rief mich das Festspielhaus an – ich habe noch geschlafen, am Tag vorher war die „Lohengrin"-Generalprobe, ich habe danach mit meinem Manager in einem Lokal zu Abend gegessen und bin erst um 2 oder 3 Uhr ins Bett gegangen. Ich weiß noch genau, was sie am Telefon gesagt haben: „Wo sind Sie?" Ich war ein bisschen überrascht, wusste aber, heute ist „Holländer"-Generalprobe, und dachte: Vielleicht rufen sie morgens immer alle Sänger an, die einen Cover-Vertrag haben, zur Kontrolle. Dann habe ich weitergeschlafen. Gegen 12 Uhr klingelte das Telefon wieder, und ich sollte sofort ins Festspielhaus kommen.

Wussten Sie, warum?
Youn: Nein, ich konnte auch gar nicht fragen, sie sagten nur: Kommen Sie schnell! Um halb eins war ich dort – und habe erfahren, dass ich am Abend sehr wahrscheinlich den Holländer singen würde. Ich wollte wissen: was ist passiert, ist Herr Nikitin krank? Ich wusste ja von nichts. Dann wurde ich sofort in die Maske und in die Kostümabteilung geschickt – und da wurde mir klar: Ich soll nicht etwa von der Seite singen, ich soll auch spielen. Es musste alles sehr schnell gehen, um 18 Uhr begann ja die Generalprobe, allein die Maske dauert fast zwei Stunden.Uns blieb nur sehr wenig Zeit, um das Regie-Konzept zu besprechen und zu klären: Wer ist dieser Holländer und wie bewegt er sich über die Bühne? Dann ist Christian Thielemanns Assistent mit mir die Partitur durchgegangen und hat mir gezeigt, an welchen Stellen ich besonders aufpassen soll. Danach habe ich noch schnell etwas gegessen – dafür war ja vorher keine Zeit; und um 16 Uhr musste ich in der Maske sitzen.

Was ist Ihnen da durch den Kopf gegangen?
Youn: Ich konnte keinen Gedanken fassen. Kurz vor Beginn kam Herr Thielemann zu mir und machte mir Mut – er sagte: „Mach dir keine Sorgen, wir helfen dir, wir können das heute schaffen!"

Waren Sie zufrieden mit sich? Die Reaktionen des Publikums waren ja sehr positiv.
Youn: Ja, ich erinnere mich. Aber ich war nicht zufrieden mit mir. Mein Ziel waren 100 Prozent, ich habe vielleicht 70 erreicht. Ich hatte die Rolle schon in Köln gesungen – aber mit sechs Wochen Probenzeit und mehreren Orchesterproben. Und ich wusste, Generalproben sind wichtig, weil da viele Intendanten und Agenten im Publikum sitzen. Aber ja, alle waren glücklich.

Wann hat man Ihnen angeboten, die Rolle komplett zu übernehmen?
Youn: Direkt nach der Probe. „Wir machen weiter mit Ihnen, wenn Sie einverstanden sind. Wir möchten, dass Sie alle Vorstellungen singen." Ich habe sofort zugesagt, ich wollte aber auch gerne weiter den Heerrufer im „Lohengrin" singen, weil ich das Stück sehr schätze. Mit dieser Partie ist mein Name in Bayreuth ja erst bekannt geworden.

Wie groß war das Risiko, das Sie eingegangen sind? Alle wussten ja, dass Sie einspringen – hätte das für Sie wirklich schiefgehen können?
Youn: Ja, natürlich. Der Holländer ist sehr schwer. Die Lage ist dramatisch hoch, geht aber auch in die Tiefe; man braucht viel Volumen, und andererseits gibt es viele leise Stellen. Man muss sich sehr gut kontrollieren, sonst muss man die Oper ohne Stimme zu Ende singen. Ich hatte aber nach meinem Debüt in Köln ein gutes Gefühl. Ich habe dort zehn Vorstellungen am Stück gesungen, allein, alle zwei Tage eine. Diese Sicherheit hatte ich schon. Und ich fühle mich wohl mit dieser Partie – als hätte Wagner sie für mich geschrieben. Natürlich, es kann immer schiefgehen. Aber man braucht eben auch ein bisschen Mut. Und – es ist ja gutgegangen (lacht).

Was meinen Sie damit, Wagner habe diese Partie für Sie geschrieben?
Youn: Wegen ihrer Lage. Der Holländer, und übrigens auch Wotan – diese Partien haben sehr viele Farben, eine viel größere Breite als in anderen romantischen Opern. Gerade habe ich die Titelrolle in „Attila" von Verdi gesungen – da gibt es auch schwere Stellen, aber der Holländer ist zehnmal so schwer. Und ich habe eben die Lage, die man dafür braucht. Meine Stimmbänder haben die Flexibilität, das zu schaffen. Das kann nicht jeder; es ist nicht so, dass jeder den Holländer singen kann, wenn er nur lange genug daran arbeitet. Man muss dazu geboren sein, man muss diese Stimme haben. Das ist Glück, ein Geschenk von Gott.

War der Tag der Generalprobe, der 21. Juli, ein Glückstag für Sie?
Youn: (überlegt) Mich haben seitdem viele Leute gefragt: Wie schaffst du das, eine solche Leistung, in so kurzer Zeit? Ich habe immer geantwortet: Weil mein Gott neben mir steht. Ich war irgendwie cool, gar nicht aufgeregt, obwohl es eine sehr schwierige Situation war. Ich war nicht hektisch, ich konnte mich gut kontrollieren. Und jetzt, nach den ersten Proben in diesem Jahr, bewundere ich mich noch mehr. Wie konnte ich mir all diese Details merken? So viel, in so kurzer Zeit? Ohne die Unterstützung von Gott hätte ich das nie geschafft, da bin ich mir sicher. Man kann es Glück nennen, natürlich. Ich habe diese Stunden als Aufgabe verstanden, als ein Geschenk, das ich annehmen muss. Das war mein Gedanke dabei.

Wie war die Resonanz in den Wochen danach?
Youn: Dieser Holländer hat mir viel gebracht, viele Opernhäuser haben mich dafür angefragt. Es ist eine Schatz-Partie, sehr gefährlich, aber auch sehr schön. Ich schätze sie sehr. Aber ich darf sie nicht zu oft singen. Man muss immer etwas anderes dazwischen machen, um die Balance zu halten.

Noch einmal zurück zum 21. Juli 2012. Was haben Sie nach der Generalprobe gemacht?
Youn: Ich war leer. Mein Manager kam und fragte: Samuel – wie schaffst du das? Ich wusste es nicht. „Mein Gott hat mir geholfen", habe ich gesagt – einen anderen Gedanken hatte ich nicht. Wir sind dann alle zusammen essen gegangen – ich habe die ganze Zeit kein Wort gesagt. Ich war wirklich kaputt. Ich war mir nicht einmal sicher, ob das alles vielleicht ein Traum war.

Mögen Sie das eigentlich – solche Abenteuer, eine solche Extremsituation?
Youn: Mögen? Nein (lacht). Nach der Generalprobe habe ich gesagt, so etwas will ich in den nächsten zehn Jahren nicht nochmal erleben. Die Anstrengung war unglaublich – da war eine solche Spannung, eine solche Konzentration, das war einmalig. Das wird sich in meinem Leben nicht wiederholen. Ich glaube, ich habe deshalb bei der Generalprobe sogar besser gesungen als bei der Premiere.

Das Gespräch führte Florian Zinnecker.

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