Schonung im Labor

Florian Zinnecker
 Foto: red

 Es ist kein guter Abend für Heilsbringer. Zwei Tage, nachdem die Festspielleitung den großartigen und als Genie verehrten Andris Nelsons als „Parsifal“-Dirigenten für 2016 ausgerufen hat, unterläuft Nelsons im Graben ein kleines Malheur nach dem anderen. 

 
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Nelsons hat kein Glück mit den Holzbläsern. Zweimal läuft ihm der Chor davon. In der schmetternden, kriegslüsternen Verwandlungsmusik im dritten Aufzug braucht es die Pauke, um das schwere Blech zurück ins Glied zu zwingen.

Und auch das sonst so leichte, sphärisch klingende Vorspiel zum ersten Aufzug will heute nicht so richtig schweben. Natürlich: das Orchester, mit dem Nelsons zu tun hat, ist das Bayreuther Festspielorchester; das musikalische Niveau des Abends ist immer noch geradezu unverschämt hoch. Nur: Es klingt einfach, als mache es heute mehr Arbeit, dieses Niveau zu erreichen. Vielleicht ist es einfach zu warm. Der Applaus für Nelsons ist gewaltig. Es gibt nur einen, für den der Jubel noch größer ist: für Klaus Florian Vogt, den Lohengrin. Vogt singt drei Aufzüge lang makellos, mühelos, hell und ohne Anstrengung. Dieser Lohengrin, das ist seine Rolle. Kein strahlender Held, sondern ein weicher, zerbrechlicher Mann; davon wird noch zu reden sein.

Auch Annette Dasch, die Elsa, wird bejubelt. So rasend und unbedingt, dass sie selbst ein wenig überrascht wirkt deshalb. Es war ein anstrengender Abend für sie, auch ihr bereitete es heute – merklich – mehr Mühe als sonst, das erwartete Wunder zu vollbringen. Thomas J. Mayer ist ein finsterer Telramund mit rauem, nicht immer durchschlagendem Bass, Susan Maclean eine Ortrud mit jederzeit durchschlagendem Sopran. Wilhelm Schwinghammer ist ein stimmstarker König Heinrich; und Samuel Youn als Heerrufer fühlt sich hier merklich wohler als im „Holländer“, auch er wird gefeiert. Es ist ein stimmiges, schon in der Premiere eingespieltes Ensemble, und das Schöne ist: Man versteht bei beinahe allen fast jedes Wort. Es geht also doch. Der Schlussapplaus am Freitag ist der bisher längste in dieser Festspielzeit.

Und dann betritt Hans Neuenfels die Bühne – und es ist Zeit für einen Wutanfall. Neuenfels kommt, stellt sich zu den Sängern und zum Festspielchor, der heute einen ausgezeichneten Abend hat, besser noch als beim „Fliegenden Holländer“ am Mittwoch. Und Neuenfels, dem mit dieser Inszenierung ein wahres Kunststück gelungen ist, wird ausgebuht, von einem nicht eben kleinen Teil des Publikums, der wiederum von Bravo-Rufern überbrüllt wird. Neuenfels bedankt sich mit Kusshand, bei welcher Hälfte, ist nicht ganz klar.

Die Art und Weise, wie Neuenfels den „Lohengrin“ erzählt, zeigt, dass es eben doch einen Unterschied gibt zu den Glogers und Baumgartens dieser Festspiele (wobei von Baumgarten noch nicht die Rede sein soll – der ist erst später dran). Neuenfels’ Ansatz ist – auch im dritten Jahr dieser Inszenierung – simpel, aber gekonnt und wirkungsvoll: Er überformt nichts, er ändert nichts, er interpretiert nichts. Er erzählt – nur – neu. Und geht dadurch ungeheuer schonend mit dem ihm anvertrauten Werk um. Man merkt es vielleicht nicht sofort, weil zum Beispiel die Rattenkostüme des Chors einen anderen Eindruck vermitteln.

Aber das ändert nichts. So sehr der „Fliegende Holländer“ ein Stück der Hoffnungen, Erwartungen und Sehnsüchte ist, so offenkundig verhandelt „Lohengrin“ das Gegenteil: das Drohende und, als die Kehrseite, das Unerwartete. Das offenbart sich schon im ersten Aufzug – Elsa droht Strafe wegen Brudermords, und sie wird gerettet von einem unbekannten Ritter. Es ist eine Geschichte über Zweifel und Angst, Neuenfels lässt sie unverändert. Sie hat sich bewährt, sie muss nicht aktualisiert werden, sie ist aktuell – es gilt nur zu zeigen, wie und warum. Neuenfels vertraut auf die Handlung, auf die Musik, er verkehrt die Bedingungen der Geschichte in ihr Gegenteil und untersucht, was dabei mit der Geschichte passiert. Und: Ihr passiert nichts.

Neuenfels’ „Lohengrin“ findet – buchstäblich – unter Laborbedingungen statt. Es gibt keinen Fluss, kein Münster, keine wildromantische Natur. Sondern Kunstlicht, gefliesten Boden, einen Rattenkäfig und eine klare, konsequente Schwarz-Weiß-Symbolik (Ausstattung: Reinhard von der Thannen). Auf die klassischen Requisiten mag Neuenfels dabei nicht verzichten – und so gibt es doch einen Schwan und einen Kahn, Lohengrin und Telramund kämpfen mit Schwertern, König Heinrich trägt Krone und sitzt auf einem Thron, im Brautgemach steht ein Bett. Wenn auch alles in abgewandelter, weitergedachter Form. Lohengrin und Elsa, König Heinrich, Ortrud und Telramund zeigt Neuenfels als erschütterte, ängstliche, gebrochene Menschen. Das sind sie ohnehin, man sieht es sonst nur nicht.

Und wenn man sich genau ansieht, wie der Chor – das Volk – agiert, wie leicht es zu begeistern, zu überzeugen und aufzustacheln ist: Dann ist Neuenfels’ Idee, dieses Volk in Rattenkostüme zu stecken, nicht nur konsequent, sondern fast genial. Aber natürlich: Wer einen „Lohengrin“ wie aus dem 19. Jahrhundert erwartet, wird – zwangsläufig – enttäuscht. Was man natürlich der Inszenierung vorwerfen kann. Aber nicht muss.

Und genau das ist der Punkt, um den es an dieser Stelle eigentlich gehen müsste – und weil Neuenfels’ „Lohengrin“ so glänzend gut gelungen ist, ist dieser Abend vermutlich die beste Gelegenheit in dieser Spielzeit, die entscheidenden Fragen zu stellen. Die Frage, was das alles soll. Was Oper, als Kunstform, im Jahr 2012 sein soll, sein muss und sein kann – und was nicht. Auch und vor allem aus der Sicht des Publikums.

Geht es darum, einen möglichst störungsfreien Abend zu verbringen, einen Anlass, sich möglichst komplikationslos zu versammeln und oft gehörte Musik ein weiteres Mal zu hören?

Kann es wirklich das Ziel sein, eine vermeintlich ideale Aufführung – falls es die jemals gegeben hat – einfach wieder und wieder zu wiederholen, damit kein Regisseur mit eigenen Ideen Schaden anrichten kann? Muss ein Lohengrin tatsächlich in strahlender Rüstung stecken und von einem Schwan nach Brabant gezogen werden? Oder soll das sichtbar werden und zur Diskussion stehen, worauf auch Schwan, Rüstung und Kahn in Wahrheit nur hindeuten?

Kurz: Geht es um die Bereitschaft, sich selbst einer neuen, noch nicht vorgekosteten Idee auszusetzen, sich konfrontieren und vielleicht sogar wachrütteln zu lassen? Oder darum, dass nur das Erwartete auch annehmbar ist? Sind die eigenen Erwartungen wichtiger – oder das Unerwartete, Unerwartbare? Muss man, wenn man nicht einverstanden ist, wirklich Buh schreien? Und wenn es nur um das Erwartete geht: Lohnt sich dann der Aufwand?

Dieser Abend hat gezeigt, welche Antwort mehr Sinn ergibt.