Im Osten ganz und gar nichts Neues Premierenkritik „Siegfried“ bei den Bayreuther Festspielen 2013

Von Florian Zinnecker

Es ist schade um die schönen Momente, die im dritten Teil der „Ring“-Inszenierung von Frank Castorf stecken. „Siegfried“ krankt an einem Missverständnis: Dirigent, Sänger und auch der Bühnenbildner nehmen das Werk ernst. Der Regisseur nicht.

 
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Nach diesem „Siegfried“ ist vieles klarer. Zum Beispiel, was Frank Castorf mit diesem „Ring“ vorhat, was er will von diesem Werk.

Aber vorher noch rasch zu etwas Erfreulichem. Nämlich: Kirill Petrenko – der gerade dabei ist, Geschichte zu schreiben mit der Weise, wie das Bayreuther Festspielorchester unter seiner Leitung diesen „Ring“ erzählt. Fiebrig, aber ungeheuer präzise, flink, aber trotzdem unglaublich dicht, sehr dunkel und schroff, und dabei mit einer unfassbar genauen Dynamik. Die Zuschauer springen auf, sobald Petrenko vor den Vorhang tritt, ihm scheint der Jubel beinahe unangenehm zu sein, so, als könne er nichts dafür, als habe er das alles einfach so im Kopf. Womöglich ist es ja tatsächlich so, aber das ist nicht wichtig, wichtig ist daran etwas anderes: Das gibt es so nur hier, nur im Bayreuther Festspielhaus, mit diesen Musikern, diesem Dirigenten. Im Unterschied zu allem anderen, was diesen „Siegfried“ ausmacht.

Ideen blitzen auf
 

Im „Rheingold“ hatte Regisseur Frank Castorf gezeigt, dass er in der Lage wäre, eine völlig neue Ästhetik nach Bayreuth zu bringen – eine Ästhetik, die anderswo seit Jahrzehnten funktioniert und natürlich nicht nur mit dem „Ring“. Sondern mit ungefähr jedem Stoff, den man nur auf einer Bühne stattfinden lassen kann. Allerdings: Mit dem „Rheingold“ geht es eben auch, und es machte auf sehr bescheidene Art sogar Mut – dass Oper auch anders erzählbar ist, auch anders gut aussehen kann als auf die Art, wie sie bisher erzählt wird. Und auch, wenn es bei einigen Sängern auf Kosten des Gesangs ging: Was Castorf seinen Sängern an Schauspielerei abverlangte, ist tatsächlich so noch nicht dagewesen.

Mit dem „Rheingold“-Schlussakkord hörte Castorf damit aber auf. Castorf ist keiner, der seine Einfälle totreitet, er lässt sie alle nur kurz aufblitzen und dann verglühen; leider auch die guten. (Seine ganz großen Ideen, auch das zeigt dieser „Ring“, reitet er leider trotzdem tot.)

In diesem „Siegfried“ jedenfalls stecken tatsächlich nicht allzu viele gute Einfälle. Es könnte sogar sein, dass der dritte Teil des Castorf-“Rings“ der erste ist, der – wenigstens bei der Regie – ohne einen einzigen ernstzunehmenden Gedanken auszukommen glaubt.

Genug Ansatzpunkte
 

An den Ansatzpunkten mangelt es nicht. Auch dieser Teil spielt in einer Umgebung, die gar nicht so konkret und real ist, wie sie auf den ersten Blick zu sein scheint. Die Welten, die Aleksandar Denic für jede der bisherigen „Ring“-Opern auf die Bühne zimmert, sind ja genau deshalb so genial, weil sie nie so ganz bei sich selbst sind. Das texanische Motel aus dem „Rheingold“ war nicht nur ein hochinteressanter Handlungsschauplatz, sondern mindestens ebenso viel Symptom, eine Sackgasse, in die man sich hineinverfahren hatte auf dem Weg in die Freiheit. Auch der Ölförderturm in Aserbaidschan, auf dem die Figuren aus der „Walküre“ herumstanden, war beides: Schauplatz und Symbol.

Und jetzt, in „Siegfried“, ist es der Mount Rushmore, in den die Köpfe von Marx, Lenin, Stalin und Mao hineingehauen sind. Auf der Rückseite steht der Berliner Alexanderplatz, originalgetreu mit Postamt, Kaufhof-Fassade und Weltzeituhr, nur der Fernsehturm fehlt; und natürlich ist dieser Alexanderplatz ganz buchstäblich die andere Seite des in Stein gehauenen Kommunismus, Theorie und Praxis, Ursache und Folge, Anfang und Ende, Risiko und Nebenwirkung. Unter den Steinköpfen steht Mimes Tresor-Wohnwagen aus dem „Rheingold“, hier wird später auch die – in grüner Plastikfolie schlafende – Brünnhilde (Catherine Foster) aufgeweckt. Siegfried kommt also nie so recht aus diesem Tal hinaus.

Die Idee ist glänzend, den „Ring“ als zufällige Folge einzelner Episoden zu erzählen, Episoden, die einander nicht bedingen – Oper als Kurzgeschichtensammlung.

Kurzgeschichten vor atemberaubender Kulisse.

Jetzt müsste man sie nur noch inszenieren.

Die Ordnung in die Luft jagen
 

Zusammengehalten sind die Episoden von einigen Leitmotiven: dem Barkeeper aus dem „Rheingold“, der nun als Bär und als Alexanderplatz-Kellner im „Siegfried“ agiert (der Mann heißt Patric Seibert und ist Castorfs Dramaturg). Der Nibelheim-Panzerwagen. Das Thema Öl, das nun aber doch gar nicht so zentral ist wie gedacht. Der ausfransende Anfang, das immer offene Ende, das in sich abgeschlossene Sozialgefüge: immer sind alle Charaktere Teil eines geschlossenen Systems. Und dann ist da dieses eine Thema mit Variationen: In jeder Oper versuchte bisher einer, die bestehende Ordnung in die Luft zu jagen. Im „Rheingold“ ließ sich Loge nur von der Klage der Rheintöchter abhalten, eine Tankstellen-Benzinpfütze anzustecken, in der „Walküre“ schlug die mit Nitroglyzerin versetzte Revolution fehl, in „Siegfried“ versucht Mime im ersten Aufzug eine Selbstsprengung, die an der Verkabelung scheitert.

Der einzige, dem die Sprengung zuverlässig gelingt, ist Frank Castorf. Er schafft es mit petrenkohafter Präzision, all die guten Ideen, all die darin steckenden Möglichkeiten, all die Spielräume und tatsächlich tragfähigen neuen Gedanken sofort wieder zunichte zu machen. Weil da zwar gute Ideen sind, er aber sichtlich wenig Lust hatte, diese Ideen ernst zu nehmen.

Weil ihm das alles so richtig egal zu sein scheint.

Man muss das alles auch nicht ernst nehmen, gerade die große Bedeutungsschwere von Richard Wagners Riesenwerk lädt ja dazu ein, ein paar grundsätzliche Fragen zu stellen. Vor allem die nach Sinn und Zweck.

Ein Waldvogel? Kopulierende Krokodile? Kalaschnikov?
 

Aber: ein Waldvogel im Sambakostüm, der auf dem Alexanderplatz herumsteht und Siegfried erst einmal für sich beansprucht, bevor der sich zu Brünnhilde aufmacht? Zwei kopulierende Krokodile, die auf Siegfried und Brünnhilde zukriechen, während diese die leuchtende Liebe und den lachenden Tod besingen, eines frisst den Sonnenschirm, mit dem Brünnhilde die Riesenechse in Schach halten will, das andere verschlingt den Waldvogel, der aber kurz vor der Verdauung von Siegfried wieder aus dem Maul herausgezogen wird? Das Schwert Nothung als Kalaschnikov? Fafner, der, obwohl von einer Gewehr-Salve durchlöchert, noch zehn Minuten singt? Erda als Edelhure, die mit Wotan Spaghetti essen geht? Wirklich? Man muss das, wie gesagt, ja auch nicht ernst nehmen; Castorf hatte ja angekündigt, das nicht zu tun. Aber bitte: Das soll lustig sein?

Der Anteil des Wagner-Publikums, das mehrere Jahre auf Bayreuth-Karten zu warten bereit ist, um dann erklärt zu bekommen, das alles sei ja nur ein riesiger Haufen Quatsch mit Soße – dieser Anteil dürfte eher überschaubar sein.

Es tut einem leid


Und dann tut es einem nur noch leid: dass Lance Ryan, dem diese Partie nicht so recht bekommt, sich für seinen Siegfried so sehr anstrengen muss, allein schon, um die Worte irgendwie zu fassen zu kriegen, und das alles für eine szenisch so gleichgültige Umsetzung. Es tut einem leid, dass das nun Wolfgang Kochs Rollendebüt als Wotan gewesen ist – eine Gestalt, charismatisch und bedrohlich bis zur Gänsehaut, dunkel, mit Kanten und Schatten, aber eben auch auf der Stimme, der Wanderer war sein souveränster, bester Abend in diesem „Ring“, trotz all der Spaghetti-und-Rotwein-Blödsinnigkeiten, die sich Castorf für ihn und Erda ausgedacht hat. Erda, Nadine Weissmann, ist einfach nur großartig, genau wie Burkhard Ulrich als Mime und Solin Colibran als Fafner. Diese drei Stimmen sind die größten in diesem „Ring“. Und Catherine Foster brilliert – tatsächlich, endlich – als neue Bayreuther Brünnhilde. Doch wieder einmal zeigt sich: Es sind die Bilder, die bleiben.

Das Buh-Gebrüll ist heftig nach dem dritten Aufzug, und noch im Treppenhaus beginnen die Premierenbesucher, auf Englisch, Deutsch, Französisch und Italienisch, Geschichten zu erzählen. Von früher. Als es, wie sie sagten, noch gute „Ringe“ gab in Bayreuth.