Christian Wulff fürchtet um die Demokratie: Weihnachtsvorlesung des Bundespräsidenten a.D. an der Uni "Nicht nur von außen bedroht"

Von Michael Weiser
So viel Andrang ist auch im Audimax selten: Christian Wulff, Bundespräsident a.D., hielt an der Universität Bayreuth vor vollen Rängen eine Weihnachtsvorlesung. Fotograf: Peter Kolb Foto: red

Vorm Audimax Gedränge wie vor einem Wiesnzelt und Ordner, die Zuhörer nur noch abgezählt reinließen, wenn Leute den Audimax verließen. Drinnen: ein Bundespräsident a.D. Christian Wulff hielt die Weihnachtsvorlesung und redete den Menschen ins Gewissen: In einer Volksherrschaft hat sich das Volk um seine Herrschaft zu kümmern.

 
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Auch Politiker benötigen ein Markenzeichen. Ein Lied war‘s für Bundespräsidenten Walter Scheel („Hoch auf dem gelben Wagen“), eine Aufforderung für den Amtskollegen Roman Herzog: „Es muss ein Ruck durch Deutschland gehen.“ Der zehnte in der Reihe der deutschen Staatsoberhäupter verewigte sich durch eine Feststellung. „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“, sagte Christian Wulff erstmals am 3. Oktober 2010.

Man kann sagen, Christian Wulff arbeitet weiter an seinem Markenkern, auch knapp vier Jahre nach seinem Rücktritt. Vor dem überfüllten Audimax der Bayreuther Uni hielt er eine Weihnachtsvorlesung – darüber, was eine demokratische Gesellschaft im 21. Jahrhundert zusammenhält. Mit einem Plädoyer für Liberalität, Offenheit und Toleranz, für die modernen demokratischen Werte. Und mit einer Aufforderung, sich für diese Werte offensiv einzusetzen, sie zu pflegen. „Es zeichnet sich ab, dass es überhaupt nicht selbstverständlich ist, dass westliche Demokratien liberal bleiben“, sagte er angesichts des Vormarsches der Volksverführer westlich wie östlich Deutschlands. „Unsere Art zu leben ist eben nicht nur von außen bedroht.“

Launig, mit Zwischentönen

Christian Wulff hielt, dem schweren Stoff zum Trotz, eine nicht so sehr präsidiale, sondern streckenweise geradezu launige, ja hemdsärmelige Rede, allerdings mit Gefühl für Zwischentöne. Vielen empörten Bürgern gleich tadelte er die Eliten, allerdings nur jene, die die Gemeinschaft für ihre Gier in Geiselhaft genommen haben. „Wir müssen irgendwann mal erkennen, dass sich manche Eliten aus der gesellschaftlichen Verantwortung zurückgezogen haben“, sagte er. „Es gibt Leute, die gewinnen, wenn Aktien fallen, die ihnen gar nicht gehören.“

Klare Stellung

Christian Wulffs vielleicht historische Leistung als Bundespräsident liegt allerdings woanders: Er bezog vor sechs Jahren klar Stellung in der panischen Debatte, die Thilo Sarrazin mit seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ ausgelöst hatte. Wulff stellte der Hetze seinerzeit sein Bild von einem Deutschland entgegen, zu dem man ohne Rücksicht auf Abstammung oder Religion gehören könne – wenn man  Gesetze und Verfassung respektierte.

Vielfalt als Konstante

Eine Linie, die er in Bayreuth verfolgte. Vielfalt, Befruchtung aus unterschiedlichsten Kulturen sei so ziemlich die einzige Konstante in der Geschichte Europas, die übrigens auch nicht immer so lichtvoll gewesen sei, dass man auf andere herabschauen könne - so kann man die Rede da zusammenfassen. Steve Jobs – der Sohn eines syrischen Einwanderers. Wäre der Vater nach Franken gekommen, würde Apple noch immer keine Steuern zahlen – aber: Welche Perspektiven für Franken! Allerdings: Es gebe Grenzen. Und die gelte es zu wahren. Ob‘s nun die Grenze der Gesetze seien oder die des Staates.

Der Islam-Popanz

War das rührend, heute, im postfaktischen Zeitalter? Oder doch nur mal wieder notwendig? Wulff jedenfalls bemühte sich, Fakten gegen die Islamfurcht zu setzen. Indem er den geschätzten Anteil von Moslems der tatsächlichen Zahl entgegenstellte. Auf sechs Prozent schätzen die Polen den Anteil an Muslimen an der polnischen Bevölkerung. Tatsächlich liegt der Anteil bei einem Zehntelpromille. So einfach blasen Populisten einen Popanz auf. Wulff bemühte sich, dem Popanz die Luft auszulassen. Kann man wohl nicht oft genug tun, in Zeiten wie diesen.

Die Pflicht des Volkes

Über manch brüchige Brücke wandelte Wulff, etwa mit seiner Begründung des Mangels an deutscher Identifikationsfähigkeit, die mit den Befreiungskriegen gegen Napoleon so nun wirklich nicht zu begründen ist. Aber er hat unbedingt Recht mit seinem Appell an die vor ihm versammelte Jugend: Demokratie leite sich her von Demos, dem griechischen Wort für Volk. Und dessen Pflicht sei es, sich zu kümmern und zu engagieren. Eine Pflicht gerade der jungen Generation. Dass die in England versagt hatte, bei der Abstimmung über den Brexit, und zwar indem sie einfach nicht wählte – das hatten bereits die Vorredner Wulffs unterstrichen, die Studenten Laura Veigl und Niklas Wenzel.

Anstand im Internet?

Wulff forderte Anstand ein, Fairness auch in den sozialen Netzwerken, eine faire, aber auch von Verlegerseite verantwortungsvoll gepflegte Presse, die der Lügenflut im Internet entgegenwirke könne; er sprach sich aus für weniger Selbstmitleid, mehr Stolz, Verantwortungsbewusstsein und Kümmern um das – er gebrauchte wirklich dieses schöne wahre Wort – Gemeinwesen. Ein großes Fass hat er aufgemacht, er hat in hektischem Tempo ein weites Feld übergeflogen.

Was wirklich teuer kommt

Kann vielleicht auch nicht anders sein, da alles zusammenhängt und doch erst wieder neu geordnet werden müsste. Insgesamt: Nicht die schlechteste Rede, die man heuer gehört hat. Zumindest mal eine Anregung, darüber nachzudenken, was man selber für die kränkelnde Ordnungskraft namens Demokratie tun könnte. Die Form an sich wäre bewährt, sie ist nicht mehr bewehrt. Es fehlt mal wieder an Demokraten. Despotie sei billig, sagte der Bundespräsident a.D. mit Blick auf die Türkei: Man müsse ja nur einen Mann zahlen. Wulff setzt darauf eine gar nicht mal so billige Pointe: „Das kommt einen nachher teuer zu stehen.“

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