Wie und wo Protestwähler gedeihen

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Der Humangeograph Gerhard Henkel gilt das "Anwalt des Dorfes". Foto: red Foto: red

Eigentlich sollten Sparkassen und Volksbanken dem Gemeinwohl verpflichtet sein. Insbesondere auf dem Land. Denn dort wurden sie vor 150 Jahren begründet. Der Humangeograph Gerhard Henkel, der selbst in einem Dorf wohnt, ist ziemlich sauer, wenn er hört, dass immer mehr Institutionen den ländlichen Regionen den Rücken kehren. Im Kurier-Interview erklärt Henkel, warum durch diese Entwicklung auch die Demokratie gefährdet ist.

 
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Herr Prof. Henkel, Sie wohnen selbst in einem 2600-Seelen-Dorf in Westfalen. Was schätzen Sie am Dorfleben?

Gerhard Henkel: Zum einen die Naturnähe. Man ist schnell im Garten, im Feld oder im Wald, wo man gut entspannen kann. Zum anderen die Überschaubarkeit, die eigenen sozialen Kontakte, die man im Dorf hat. Ich schätze die Anpackkultur, die man hier erleben kann und teilweise selbst mitgemacht hat, sowie den traditionsorientierten Lebensstil. Man pflegt das Brauchtum und befasst sich mit der Geschichte des Dorfes, der Kirche und der Vereine.

Gibt es in Ihrem Dorf noch eine Bankfiliale?

Henkel: Ja, die gibt es. Sogar zwei. Aber die Schrumpfung beginnt auch hier. Die Sparkasse ist nur noch an zwei Tagen in der Woche geöffnet und in Nachbardörfern aber schon ganz geschlossen.

Vor einigen Wochen hat die Sparkasse Bayreuth angekündigt, zahlreiche Filialen in der Region zu schließen. Welches Signal geht davon aus?

Henkel: Dass sich inzwischen die meisten zentral organisierten Institutionen aus dem Dorf zurückziehen. Die Dorfbewohner spüren die nachlassende Wertschätzung ihrer Wünsche. Sie werden wütend, auch vor dem Hintergrund, dass Institutionen wie Sparkassen oder Volksbanken eigentlich dem Gemeinwohl verpflichtet sind. Als sie vor rund 150 Jahren begründet wurden, geschah dies auf dem Land. Friedrich Wilhelm Raiffeisen hat sie zur Förderung des Wohlstands und der Kultur des Dorfes geschaffen. Das waren die Motive. Inzwischen sitzen die Entscheider der durch Fusionen immer größer gewordenen Institute in den urbanen Zentralen und haben vergessen, wo und wofür sie entstanden sind. Die Menschen bekommen natürlich auch mit, wie die Gehälter auf den Führungsetagen sind und dass einige Direktoren ein Mehrfaches des Gehalts von Frau Merkel bekommen. Da können sie sich vorstellen, wie die Meinung der Dorfbewohner ist.

Nicht nur die Banken ziehen sich vom Land zurück. Vor gut zwei Wochen hat das Erzbistum Bamberg mitgeteilt, dass aufgrund des Priestermangels bis 2022 nur noch 88 Prozent der heute existierenden Stellen besetzt werden können. Auch die Kirche sendet also keine positiven Signale.

Henkel: Leider nein. Jedes deutsche Bistum sitzt auf milliardenschweren Vermögen und könnte aus dem Stand tausend Gemeindereferenten einstellen, um die zu wenigen Priester bei der Seelsorge zu unterstützen. Die Kirche denkt aus meiner Sicht zu wenig in Richtung Seelsorge und einseitig in Richtung Finanzen. Zum Beispiel das Bistum Paderborn. Dort erwirtschaftete die Kirche 2015 rund 44 Millionen Euro Gewinn, zugleich verlieren die Gemeinden 18 000 Menschen – und die Kirche zieht zufrieden Bilanz. Dieses Ergebnis ist jedoch verheerend und sollte bei allen Betroffenen große Bestürzung auslösen.

Und ist sicher nicht im Sinne von Papst Franziskus

Henkel: Nein. Die deutschen Bischöfe sind ja auch sauer auf den Papst, weil dieser sich immer wieder auf die Ortskirche beruft und die Bischöfe auffordert, aus ihrer geistlichen Arroganz gegenüber den Gläubigen der Ortskirchen aufzuwachen.

Was müsste sich in der Kirche ändern?

Henkel: Fast alles. Wir bräuchten an der Spitze der meisten - katholischen wie evangelischen -  Bistümer möglichst einen Franziskus. Allerdings muss ich sagen, dass durchaus eine Reihe von Bischöfen im Sinne von Franziskus handelt und keine Gedanken daran verschwendet, Dorfpfarreien aufzulösen. Allerdings haben einige Bistümer wie Augsburg und Münster bereits das schlimmste gemacht, was man Kirchengemeinden in dieser Situation antun kann: Auflösung von Kirchengemeinden nach dem Schema der kommunalen Gebietsreform, womit ja generell die Dörfer traumatisiert worden sind. Alles soll besser werden durch Großpfarreien, zusammengefügt aus 20 bis 40 Altpfarreien, die zig Kilometer auseinander liegen. Das geht nur in Richtung, die Gewinne stabil zu halten. Der Seelsorge und dem Mitmachen der Gläubigen dient das nicht. Die Kirchen schieben durch die Pfarreiauflösungen Zigtausende von ehrenamtlich tätigen Menschen einfach beiseite. Nach dem Motto: Wir brauchen euer Mitdenken, Mitfühlen und Mithandeln nicht mehr. Die Kirche schaufelt ihr eigenes Grab.

Sie schreiben in Ihrem Buch „Rettet das Dorf!“: Die Amtskirche beseitigt die Volkskirche. Aber ist es nicht so, dass sich die Amtskirche langfristig selbst beseitigt?

Henkel: Sie beseitigt ihre eigentliche Aufgabe, wird aber immer reicher. Irgendwann kann sie sich dann vielleicht mit Konzernen wie Allianz oder Siemens messen. Ein nachdenklich machendes Beispiel aus einer westfälischen Stadt: Zu den Eltern von Kindern, die zur Erstkommunion gehen wollten, hat der zuständige Pfarrer gesagt, dass er selbst die Vorbereitung zur Kommunion nicht machen kann. Die Eltern sollten sich selbst einen Pfarrer suchen. Viele Dorfvereine, die an ihre Zukunft denken, machen eine bessere Jugendarbeit als die Kirche.

Was müsste generell geschehen, um das Dorfleben wieder attraktiver zu machen?

Henkel: Zum einen hängt das von vielen Entscheidungen ab, die in den Zentralen von Politik und Gesellschaft getroffen werden. Zum anderen müssen aber auch die Bürger und Kommunalpolitiker etwas tun. Nicht überall ist das vorhanden, was Dörfer stark macht: die Anpack- und Mitmachkultur und diese in Jahrhunderten geübte Selbstverantwortung, etwa durch Feuerwehr, Schützenvereine und Genossenschaften. Das Denken, etwas gemeinsam auf die Beine zu stellen, ist vielfach verloren gegangen. Es gibt immer mehr Menschen, die zwar davon profitieren, dass die Vereine da sind, die aber nicht bereit sind, die Vereine durch eigenes Anpacken oder wenigstens durch Anerkennung auch mitzutragen. Das Prinzip des Geben und Nehmen ist in vielen Dörfern nicht mehr lebendig. Es kommt ganz viel auf die Dorfbewohner selber an. Das ist eine Botschaft, die jedes Dorf begreifen muss.

Gibt es positive Beispiele?

Henkel: Ganz viele! Eines davon ist die noch selbstständige 1000-Einwohner-Gemeinde Langenfeld in Mittelfranken. Obwohl dort die Infrastruktur fast komplett aus dem Dorf verschwunden ist, haben es die verantwortlichen Lokalpolitiker mit den Einwohnern geschafft, in der Dorfmitte eine alte, leer stehende Scheune zu erhalten und mit Leben zu füllen. Dort hat man einen täglich geöffneten Treffpunkt für Jung und Alt geschaffen. Jetzt ist man sogar dabei, Wohnungen für Ältere mit Tagespflege einzurichten.

Es gibt ja auch Stimmen, die fordern, die aussterbende Bevölkerung von kleinen Dörfern umzusiedeln. Was halten Sie davon?

Henkel: Manche empfehlen ja sogar Abwrackprämien für kleinere Dörfer. Das sind so zentralistische Ideen wie die Gebietsreformen. Die Beobachtung zeigt doch: Je kleiner die Orte sind, desto gemeinschaftsorientierter und größer ist der Zusammenhalt. Davon abgesehen wären Umsiedlungen viel zu teuer. Es gibt Studien, die zeigen: Wenn der Staat eine Umsiedelung aller Dörfer mit weniger als 200 Einwohnern machen würde, würde der Staat pleite gehen. Viel wichtiger wäre es, wenn man dem Dorf wieder Respekt und Anerkennung zeigen würde. Das zentralistische Durchsteuern schadet dem Dorf.

Von Ihnen stammt die These, dass der Untergang der Dörfer die Demokratie gefährdet ...

Henkel: Gebietsreformen bringen nach bisherigen Erfahrungen und neuen Studien keine finanziellen Einsparungen. Sie verursachen aber verheerende soziale und demokratische Kosten. Ich halte es für sehr gefährlich, dass man bereits über 300 000 Dorfbewohner, die es seit Jahrhunderten gewohnt sind, lokale Verantwortung zu übernehmen, das Signal gegeben hat: Wir brauchen euch nicht mehr für das Nachdenken, das Handeln, das Mitmachen – das ist etwas, womit man das Dorf als demokratische Basis des Staates ausradiert hat. Die Menschen können für ihre Orte nichts mehr tun. Die Menschen erkennen, dass sie nichts machen können und nicht gehört werden. Sie werden wütend und resignieren. So entstehen Nichtwähler oder Protestwähler.

Ihr persönlicher Wunsche für die Zukunft der Dörfer:

Henkel: Das Land braucht den Respekt der Zentralen. Wir brauchen dort ein Umdenken. Dringend. Lasst das Dorf leben und seine Kraft neu entfalten!

Info: Gerhard Henkel ist Humangeograph. Seit Jahrzehnten befasst er sich mit der historischen und aktuellen Entwicklung des ländlichen Raumes. Er war Begründer und Leiter des Bleiwäscher Kreises für Dorfentwicklung von 1978 – 2008 und ist weithin bekannt als „Anwalt des Dorfes“ und „deutscher Dorfpapst“. Er hat dazu mehr als 300 Publikationen vorgelegt. Gerhard Henkel ist Verfasser mehrerer Standardwerke zur Dorf- und Landentwicklung, darunter „Das Dorf. Landleben in Deutschland – gestern und heute“ oder „Rettet das Dorf!“

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