Musterschüler mit Leichen im Keller

Von Michael Weiser

Er warnt vorm Absenken von Ansprüchen, tadelt Noten-Dumping, stellt die Gültigkeit des Berliner Abiturs zur Diskussion und mag sich der Digitalisierungseuphorie nicht anschließen: Josef Kraus, Vorsitzender der Deutschen Lehrerverbands, geht Streit nicht aus dem Wege. Im Gespräch mit dem „Kurier“ sagt er, was ein Musterschüler an Leichen im Keller haben kann. Was Kampfhubschraubereltern sind. Und was man sich in der Schule wirklich sparen kann.

 
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Nach Ihrer Kritik an Digitalisierung und an Standards in bevorzugt nördlichen Bundesländern: Bekommen Sie ab und an Hass-Mails?

Josef Kraus: Ach, als Hass-Mails würde ich die oft gar nicht bezeichnen wollen, tatsächlich sind aber viele unterirdische Mails dabei. Gerade in jüngster Zeit, weil ich Kritik an aufgeweichten Standards und der Flut an Bestnoten geübt hatte. Dass ich von drei Schulsenatoren Widerspruch bekomme, auch von manchen Schulleitern – das war klar, damit musste ich rechnen.  Mancher legt auch einfach los und schimpft oder stülpt das Bayernklischee über mich. Dabei habe ich Bayerns Leichen im Keller sowieso nie bestritten.

"Man wollte ein erfolgreiches G 8 haben"

 Musterschüler Bayern? Leichen?

Kraus: Vor allem das G 8. Die Kritik daran hat mich auch meine politische Freundschaft mit Erwin Huber gekostet. Bedenklich finde ich auch, dass sich in Bayern die Anzahl der Abiturzeugnisse mit dem Schnitt von 1,0 innerhalb von wenigen Jahren verdoppelt hat.

Vielleicht bringt das konzentriertere G8 doch was? 

Kraus: Nein, das ist ein typischer Fall von planwirtschaftlicher Erfolgsmanipulation. Man wollte ein erfolgreiches G 8 haben, den Nachweis, dass damit ein besseres Abitur mit weniger Durchfallern gelingt.  Also hat man an der Arithmetik gedreht. Ein simples Beispiel:  Wenn ich Bedingungen liberalisiere, also etwa drei Fünfer im Zeugnis zulasse statt bis dahin zwei – dann sinkt die Quote an Durchfallern. Oder wenn ich für bessere Oberstufen-Halbjahresnoten das Wertungsverhältnis von mündlichen und schriftlichen Noten egalisiere. Mündliche Tests sind einfacher, der Lehrer kann ein wenig nachhelfen und vieles mehr. Wenn ich also diese Formel abändere, von zwei zu eins -  die schriftliche zählt also doppelt – auf eins zu eins, dann habe ich den mündlichen Anteil stark aufgewertet. Allein das ist für mich der maßgebliche Grund, dass die Abi-Noten besser geworden sind.

"Statistisches Artefakt"

 Die Schüler freut’s.

Kraus: Manche aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Schauen Sie sich die Punktehürden an. Man durfte früher in maximal so und so vielen Halbjahren schlechter als vier minus haben. Und man durfte in keinem Halbjahr null Punkte haben. Das ist aufgeweicht worden. Dadurch kommen viel mehr Schüler bis zur Abiturprüfung, was aber wiederum die Zahl der Durchfaller in der reinen Abiturprüfung etwas steigen lässt. Weil Schüler zur Prüfung antreten, die da früher nicht aufgetaucht wären. Die leicht höhere Zahl an Schülern, die nicht bestehen, ist kein Beleg dafür, dass das G 8 strenger ist. Das ist ein statistisches Artefakt. Mittlerweile steht Bayern bei den Abiturdurchschnitten übrigens an drittbester Stelle. Platz eins nimmt Thüringen ein, vor Brandenburg.

Und das soll ein schlechtes Zeichen sein?

Kraus: Es sagt jedenfalls nicht viel. Aussagekräftiger ist die iqb-Studie. Da ist zum Beispiel Baden-Württemberg, nachdem Grün-Rot fünf Jahre an der Macht war, von einem der vorderen Plätze ins hintere Drittel abgerutscht, und zwar in einem dramatischen Ausmaß.  Ein desaströses Ergebnis, das vor allem der Einführung der Gemeinschaftsschule zuzuschreiben ist. Ein Bildungssystem, das kaputt gemacht wurde, braucht zum Wiederaufbau eine Schülergeneration. Und es ist offenbar schneller kaputtgemacht als gedacht. Nun gibt es dort eine neue Kultusministerin, Susanne Eisenmann (CDU), da scheint der Name Programm, sie langt strenger hin. Es wird zum Beispiel Schluss sein mit Schreiben nach Gehör, mit phonetischem Schreiben und solchem Unsinn.

"Rechtschreibung hat dramatisch gelitten"

 Ein Wirrwarr, der aber doch bereits mit der Rechtschreibreform von 1996 eingesetzt hat. 

Kraus: Ja, durch die Rechtschreibreform ist eine gewisse Beliebigkeit eingekehrt. Das kann man so machen oder so, letztendlich ist es wurscht, Doppel-S oder scharfes S – wurscht, Groß- oder Kleinschreibung – egal. Meinen am Ende die Schüler. Zwei namhafte Studien zeigen, dass die Rechtschreibleistung der letzten 30 Jahre dramatisch gelitten hat. Die Rechtschreibreform ist ein Grund, und zwar der wichtigste. Der zweite ist ein völlig verändertes Medienverhalten. Drittens gibt es ein beträchtliches schulpädagogisches Sündenregister, eben mit Sprache nach Gehör lernen und solchen Sachen. Angeblich gewinnen die Schüler so einen kreativen Zugang zur Sprache. So ein Quatsch! Es ist leichter, etwa gleich richtig zu lernen, als etwas falsch zu lernen und sich dann wieder umzustellen.

Digitalisierung hat auch Gefahren

Das völlig veränderte Medienverhalten: Meinen Sie damit den Einsatz von Laptop und i-Pad in der Schule? Sie haben sich ziemlich deutlich gegen die Digitalisierung gewandt und wurden dafür harsch kritisiert.

Kraus: So habe ich das nicht gesagt. Ich bin gegen eine Digitalisierungseuphorie, gegen den Glauben, dass dadurch der Unterricht und das Lernen total revolutioniert werden können. Natürlich bin ich dafür, dass die jungen Leute medienmündige Menschen werden. Mündigkeit bedeutet für mich erstens die Fähigkeit, das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden zu können. Gerade in Zeiten des Postfaktischen ist das wichtig. Wobei ich dem Wort postfaktisch den Begriff parafaktisch vorziehen würden, auch wegen des Gleichklangs mit paranoid. Zweitens, dass die jungen Leute natürlich auch vernünftige Recherche und Suchstrategien beigebracht bekommen. Drittens, dass sie die Gefahren der Digitalisierung einschätzen lernen, etwa, dass man im Internet straffällig werden, dass man möglicherweise Dinge preisgibt, die einen gefährden, dass man in die Schuldenfalle tappen kann und vieles mehr. Und viertens, dass ein ganzheitlicher Zugang zu einem Thema immer noch leichter über Print ermöglicht wird als über digitale Medien. Über clevere Suchfunktionen kann ich mir häppchenweise Informationen holen und daraus flugs etwas zusammenbasteln. Ganzheitliches Arbeiten ist das nicht. Es kommt noch etwas anderes hinzu: Die Arbeit mit dem Digitalen ist von einer Flüchtigkeit, dass viele Informationen gar nicht mehr ins Langzeitgedächtnis eingehen.

"Die vis-a-vis-Kommunikation ist menschlicher und ertragreicher"

 Das klingt nun nach alten Vorwürfen, der Computer lasse das Hirn erschlaffen.

Kraus: Und doch ist es so, und da rede ich als Psychologe, dass eine Information entweder attraktiv sein oder viermal wiederholt werden muss, um im Gedächtnis haften zu bleiben. Außerdem ist die zwischenmenschliche vis-a-vis-Kommunikation menschlicher und ertragreicher, sie macht das Leben lebenswert. Unterricht lebt von vis-a-vis-Kommunikation. Wenn ich nur noch mit Laptopklassen arbeite, ist sie nicht mehr gewährleistet. Wenn ich solche Äußerungen mache, dann werde ich öfter stark verkürzt, und dann heißt es, Kraus attackiert Laptopklassen. Es gibt aber übrigens keine einzige Studie weltweit, die belegen würde, dass digitales Lernen überlegen sei. Der Lehrer macht ein Drittel des Erfolges aus, dann ein weiteres Drittel die Begabung des Schülers, und ein letztes Drittel die Art und Weise, wie er herangeht. Wie er von zu Hause aus gepolt wird, ob die Eltern Interesse haben, bei Hausaufgaben helfen, ihrem Kind ein gewisses Verhalten beibringen... 

 Aber: Ohne die Schulung im Medium der Gegenwart und der Zukunft wird’s nicht gehen.

Kraus: Aber so wird es auch nicht gehen. Fünf Milliarden will der Bund angeblich dafür bereitstellen.  Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Das wären 20 000 Euro pro Jahr und Schule – das ist ein Witz. Übrigens ist es ein Verstoß gegen das Kooperationsverbot, wenn sich der Bund einmischt.  Soweit ich aber weiß, sind im Haushalt ohnehin noch gar keine Mittel dafür eingestellt. Das wäre also reine Schaufensterpolitik.

"Ich bin überzeugter Foederalist"

Sie sprachen es gerade an: Der Bund soll sich nicht in die Bildungspolitik einmischen. Wäre aber umgekehrt eine Vereinheitlichung unter Federführung des Bundes nicht besser?

Kraus: Bloß nicht, denn dann haben wir innerhalb von zehn Jahren das Niveau von Bremen und Berlin. Das sind meine Erfahrungen aus dreißig Jahren Beobachtung der Kultusministerkonferenz. Man einigt sich immer auf der Basis des Kompromisses, des Entgegenkommens.  Da brät man dann auch mal Hamburger Extrawürste und betreibt somit Anspruchsdumping. Ich bin ein überzeugter Föderalist. Es muss aber endlich mal begriffen werden, dass man das als Wettbewerbsföderalismus begreifen muss. Dass man um die besten Lösungen ringt. Bei Pisa hat man auf Drängen gewisser Länder seit 2009 keinen innerdeutschen Vergleich mehr gemacht. Anstatt dass man sagt, wir in den Stadtstaaten schauen uns mal an, was die in Sachsen und Bayern besser machen. Es gibt schon jetzt genug Belege, dass sich umgekehrt die Bayern nach unten anpassen. Wenn wir bei den Abiturdurchschnitten Platz drei belegen, dann hat man offenbar die Ansprüche heruntergenommen. Dass das bayerische Abitur das schwerste sei, kann man daraus kaum noch ableiten.

Viel mehr Kampfhubschraubereltern in der Stadt

Vielleicht sind die Bayern einfach schlauer.

Kraus: Sagen wir’s mal so, es hat eine niedrigere Quote an Übertritten ans Gymnasium. Oberfranken wiederum hat auch noch eine niedrigere Quote als etwa München und sein Speckgürtel.

 Lässt das auf eine Benachteiligung Oberfrankens schließen?

Kraus: Nein, das liegt an einem ausgeprägteren Ehrgeiz der Eltern in der Stadt. Sie haben dort viel mehr Kampfhubschauereltern. Das sind schon keine Helikoptereltern mehr, die meinen das noch viel ernster. Da setzt die vorschulische Förderung so früh ein, da kann man ja schon fast von Fötagogik sprechen. In der Stadt gibt es auch Fasttrack-Kindergärten.

Der Mensch fängt nicht mit dem Abi an

Was für Gärten?

Kraus: Ja, Kindergärten für Kinder auf der Überholspur und für VIBs – very important Babys. Das sind lauter Dinge, die aus Amerika zu uns gelangen.

 Andere wiederum müssen sehr spät mit dem Lernen beginnen. 2016 war das Jahr mit den meisten Asylbewerbern bislang. Sind wir auf diese Herausforderung vorbereitet?

Kraus: Wir sind nicht darauf vorbereitet. Es hat ja niemand damit gerechnet, welche Größenordnung das annehmen würde. Es wäre ungerecht, wenn man sagen würde, man wurschtelt sich durch. Vor Ort läuft auf ehrenamtlicher Basis und mit viel Improvisationsgeschick unglaublich viel. Da gibt es zum Beispiel Lehrer, die als Pensionisten Deutschunterricht geben. Das ist ehrenwert, aber nicht systematisch. Und es kann nicht systematisch sein, weil keine Planzahlen vorliegen. Man schätzt, dass es um die 300.000 schulpflichtige Flüchtlinge gibt. Die Länder reagieren darauf teilweise flexibel, indem sie die Schulpflicht auf bis zu 25 Jahre verlängern. Aber selbst da gibt es dann Probleme mit der Alterseinschätzung. Es fehlt uns an Planungssicherheit. Und es fehlt an multiprofessionellen Teams. Da gehört dazu der Lehrer für Deutsch als Fremdsprache, ein Dolmetscher, ein Sozialpädagoge und, weil die Menschen in vielen Fällen traumatisiert sind, ein Psychotherapeut. Die haben wir nicht in der Fläche, und die können wir auch nicht in einem halben Jahr aus dem Boden stampfen.

Nur 54 Flüchtlinge bei 30 Dax-Unternehmen

 Wer soll das bezahlen?

Kraus: Man war bislang in der Lage, bei guter Haushaltslage zwanzig Milliarden Euro herbeizuschaffen, warum sollten da nicht noch hundert oder zweihundert Millionen verfügbar sein? Und das ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, da muss der Bund auch ran. Ich habe schon den Vorschlag gemacht, dass man arbeitslose Deutschlehrer anwirbt, mit einer sechsmonatigen Weiterbildung auf den Unterricht in Deutsch als Fremdsprache vorbereitet und ihnen Jahreskettenverträge gibt, dazu auf die nächste Bewerbung einen Bonus. Aus dem Stand geht das nicht, das muss systematisch vorbereitet werden. Es gibt aber Länder, die haben schon jetzt viel geleistet, Bayern voran. Bayern hat zum Beispiel 1200 Klassen an den Berufsschulen für Asylbewerber eingerichtet. Das sind über 2200 Lehrer, die man innerhalb eines Jahres dafür abgestellt hat. Aber nochmals:  Mit dem vorhandenen Personal, den vorhandenen Strukturen ist das nicht leistbar. Man weiß auch nicht, ob die jungen Menschen nicht ein Vierteljahr später zurückgehen müssen oder in ein anderes Bundesland zu Verwandten ziehen. Die Euphorie, dass dieser Zuzug der Wirtschaft nützt und von ihr mitbewältigt werden kann, ist längst vorbei. Wir haben 30 deutsche DAX-Unternehmen – 54 Flüchtlinge haben die aufgenommen.

Gute Vorsätze für die Bildungspolitik

 Fürs neue Jahr: Welche guten Vorsätze sollten in der deutschen Bildungspolitik gelten?

Kraus: Man muss in Deutschland in der Kultusministerkonferenz den Mut und die Ehrlichkeit haben, echte Vergleiche anzustellen. Da bin ich auch verkürzt zitiert worden. Ich habe nicht gesagt, Bayern solle kein Berliner Abitur mehr anerkennen. Ich habe gesagt, man sollte den schwächeren Ländern zwei, drei Jahre Zeit geben und erst danach andeuten, dass man die gegenseitige Anerkennung aufkündigen könne. Nicht nur für Abitur würde ich das wünschen, sondern auch für den mittleren Abschluss – da wird in manchen Ländern noch mehr gesündigt. Ich habe die Mathe-Anforderungen für den mittleren Schulabschluss in Berlin bayerischen Realschullehrern vorgelegt. Die sagten, das sei das Niveau für die achte Klasse, zwei Aufgaben seien sogar auf Grundschulniveau. Da muss man ehrlicher werden. Wir haben ein hervorragendes Berufsbildungswesen. Ich sage: Hört auf mit den Abi-Quoten, der Mensch fängt doch nicht mit dem Abi an. Und: Steigt aus Pisa aus. Das bringt nichts mehr, es richtet sogar mehr Schaden als Nutzen an, indem es uns auf ein sehr enges, verarmtes Verständnis von Bildung festlegt.

 Und für Bayern?

Kraus: Hört auf mit dem Rumgeeiere zwischen G 8 und G 9, gebt dem Spaenle, auch ihr Betonköpfe in der Fraktion, zu verstehen, dass ihr ein grundständiges G 9 mit Option auf G 8 haben wollt und nicht umgekehrt. Denn ein grundständiges G8 mit der Option auf G9 atomisiert die Gymnasiallandschaft und benachteiligt kleinere Gymnasien.

 

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