Sie haben eine tolle Saison hinter sich – nicht nur persönlich, sondern auch für den Verein und ganz Nordhessen. Befürchten Sie deswegen nun einen hohen Erwartungsdruck für die kommende Spielzeit?
Kein Sommer ohne Heimaturlaub: Auch nach der erfolgreichsten gemeinsamen Bundesligaspielzeit mit dem vierten Platz und der Qualifikation für den EHF-Pokal im Trikot der MT Melsungen machten Michael und Philipp Müller zwischen Urlaubsreise und Saisonvorbereitung in Bayreuth Station. Dabei äußerten sich die 31-jährigen Zwillinge im Interview zu Gründen für den Höhenflug, neuen Zielen, Aussichten der Nationalmannschaft und Regeländerungen.
Sie haben eine tolle Saison hinter sich – nicht nur persönlich, sondern auch für den Verein und ganz Nordhessen. Befürchten Sie deswegen nun einen hohen Erwartungsdruck für die kommende Spielzeit?
Philipp Müller: Das wird oft gesagt. Wir haben es aber immer intern geschafft, uns selbst ehrgeizige, aber auch realistische Ziele zu setzen und nicht zuzulassen, dass von außen zu großer Druck aufgebaut wird oder Panik ausbricht, wenn etwas nicht klappt. Bisher konnten wir auch ganz ruhig arbeiten. Da war immer mehr Spaß als Druck.
Michael Müller: In der Region um Kassel haben wir nicht so eine Medienlandschaft wie in den Großstädten oder auch den traditionellen Hochburgen. Da gibt es nicht so einen Druck, der an eine glorreiche Vergangenheit anknüpfen will, wie beispielsweise in Magdeburg. Wir haben Euphorie geweckt und viele Zuschauer angelockt. Damit waren alle zufrieden und glücklich, aber es dürfte auch allen klar sein, dass das kein Selbstläufer war und ist.
Was kann denn nach dem vierten Platz noch ein realistisches Ziel sein? Ist eine noch bessere Platzierung überhaupt denkbar?
P. Müller: Das Ziel wird während der Vorbereitung formuliert. Wir können zufrieden sein, wenn wir uns wieder in den Plätzen vier bis sechs oder sieben einordnen. Die großen Drei an der Spitze haben sich ihre Stellung über Jahrzehnte erarbeitet. Um da angreifen zu können, muss schon alles passen und das vor allem konstant über die ganze Saison. Wenn ein Spieler wie Torwart Johan Sjöstrand ausfällt oder auch Michi – toi, toi, toi –, dann können wir das nicht so kompensieren wie die Spitzenteams. Sollte noch mehr gelingen, wäre es natürlich schön, aber als konkretes Ziel wäre es vermessen.
M. Müller: Was die Mannschaft und der ganze Verein in der vergangenen Saison geleistet haben, war schon am äußersten Maximum. Das muss sich jetzt erst mal verfestigen und wachsen. Nun kommt der Europacup als neues Ziel hinzu, aber auch als neue Belastung mit mehr Spielen und mehr Reisen. Die Hauptsache ist, dass alle fit bleiben, dann muss man sehen, was geht.
Was war die wichtigste Veränderung in der Mannschaft für den Fortschritt in der vergangenen Saison?
P. Müller: Vor einem Jahr haben alle ganz schön geschluckt, als der Abgang von Torwart Mikael Appelgren gemeldet wurde. Das war sportlich wie menschlich ein Riesenverlust, wurde dann jedoch mit der Verpflichtung von Johan Sjöstrand toll aufgefangen. Die größte Veränderung bestand aber darin – ohne meinem Bruder jetzt Honig ums Maul schmieren zu wollen – , dass Michi zum Mannschaftskapitän wurde. Das hat die ganze Einstellung und Struktur des Teams verändert und uns einige Punkte mehr gebracht, weil in wichtigen Situationen jeder das gemacht hat, was er sollte. Und wenn doch mal einer ausgeschert ist, wurde er schnell wieder eingefangen.
Und was soll sich in der kommenden Saison verändern? Michael, man darf wohl annehmen, dass vor allem Sie sich auf Ihrer Position im rechten Rückraum etwas mehr Entlastung erhoffen?
M. Müller: Gabor Langhans aus Lübbecke ist unser einziger Neuzugang mit Einfluss auf die Spielweise. Das ist ein guter Spieler für meine Position, der in Abwehr und Angriff seinen Mann stehen und Verantwortung tragen kann. Das wird auch Entlastung für mich bedeuten. Sonst spielen wir praktisch mit der gleichen Mannschaft wie im Vorjahr. Das kann ein Vorteil für uns sein, weil wir keine lange Findungsphase brauchen werden.
P. Müller: Das gilt gerade in einem Jahr mit Olympischen Spielen, weil da andere Mannschaften kaum eine ordentliche Vorbereitung haben. Bei uns wird höchstens unser kroatischer Kreisspieler Marino Maric fehlen. Vor vier Jahren in Wetzlar haben wir auch gleich am Anfang mal einen der Großen geschlagen, weil der einfach noch nichts auf die Reihe bekommen hat.
Nun haben Sie sogar jeden der „großen Drei“ – Flensburg, Kiel und Meister Rhein-Neckar Löwen – innerhalb einer Saison besiegt. Kann man daraus schließen, dass auch diese Tabellenplätze angreifbar sind?
M. Müller: Wer die großen Drei angreifen will, muss sich ein ganzes Jahr lang konstant auf ihrem Niveau bewegen. Alle Mannschaften auf den Plätzen vier bis acht haben auch immer die Chance, einen der ersten Drei zu schlagen – aber eben nicht konstant. Unser Plus unter diesen Mannschaften war es, dass wir wenigstens zu 80 Prozent konstant waren. Wir hatten nur wenige Aussetzer, und die konnten wir mit den Siegen gegen die drei Spitzenteams ausgleichen. Sie dauerhaft angreifen zu wollen, ist aber noch ein viel zu großer Schritt. Erst mal müssen wir beweisen, dass wir uns auf Platz vier oder fünf beständig halten können.
P. Müller: Flensburg ist für mich der erste Titelkandidat, zumal sich der starke Kader dort kaum verändert hat. Kiel hat dagegen viele neue und auch junge Spieler. Da wird man erst mal abwarten müssen, ebenso wie bei den Löwen nach dem so lange ersehnten und endlich erreichten ersten Titel. Aber auch hinter uns hat man sich gut verstärkt, vor allem in Berlin. Ich bin mir allerdings gar nicht mal sicher, ob man mit dem dritten Platz so sehr viel gewinnen würde. Die Champions League ist sportlich wie finanziell noch mal eine Belastung von ganz anderer Dimension. Wenn man da dauernd verliert, kann die Begeisterung auch schnell vorbei sein.
Welche Bedeutung hat der EHF-Cup für Sie – einerseits als Ziel, andererseits als Belastung?
P. Müller: Als wir in der vorletzten Saison erstmals dabei waren, war unserem Hauptsponsor wohl noch gar nicht ganz bewusst, welche Strahlkraft der Europapokal auch für ihn haben kann. Deswegen scheint er mir jetzt umso mehr angefixt. Wir freuen uns einfach auf das besondere Flair, wenn man in anderen Ländern spielt. Ich habe damit ja noch nicht so viel Erfahrung wie mein Bruder.
M. Müller: Wenn man Jahr für Jahr im Europacup spielt, dann ist das schon sehr anstrengend. Aber nach einem Jahr ohne internationale Aufgabe können wir uns jetzt wieder richtig auf diese Erfahrung freuen. Zudem ist es eine Chance, diesen Pokal auch zu gewinnen. Wenn man sich anschaut, wer den EHF-Pokal in den letzten Jahren geholt hat, müssen wir uns im Vergleich nicht verstecken. Zumindest das Final Four sollte ein Ziel sein – das ist in jedem Wettbewerb toll. Und außerdem, jawohl: Ich will auch mal eine Meisterschaftstrophäe hoch halten!
Wie beurteilen Sie die Lage der Nationalmannschaft nach dem sensationellen Triumph bei der Europameisterschaft und vor dem Auftritt bei den Olympischen Spielen?
M. Müller: Der EM-Titel hat der ganzen Sportart extrem gut getan und einen großen Schub gegeben. Wir waren viel in Schulen unterwegs und haben gemerkt, wie das Interesse gestiegen ist. Man hört auch aus den Vereinen von einem Zulauf beim Nachwuchs. Die EM ist natürlich perfekt gelaufen, aber auch die Vorbereitung auf Olympia war gut. Eine Medaillenchance haben wir sicher auch diesmal.
P. Müller: Das läuft optimal. Die EM war natürlich toll, und der Hype wurde danach auch ganz gut mitgenommen. Ich denke allerdings, dass der Verband den Erfolg noch mehr ausschlachten könnte. Jetzt hoffe ich noch mal auf ein gutes Turnier, um die gute Entwicklung zu stützen. Wenn die Nationalmannschaft gut ist, merkt man das schließlich auch sofort in unserer eigenen Halle.
Michael, bedauern Sie es, dass Sie gerade jetzt nicht mehr selbst im DHB-Team dabei sind?
M. Müller: Ich war schon überrascht, als ich vor eineinhalb Jahren nach dem Amtsantritt von Dagur Sigurdsson als Bundestrainer noch mal eingeladen worden bin. Es war aber immer klar: Wenn ich dabei bin, dann ist jemand auf dieser Position verletzt. Jetzt sind alle einsatzbereit, und da ist die Entscheidung des Trainers absolut gerechtfertigt, auch wenn meine letzten Länderspiele nicht ganz so schlecht waren. Ich bin ja auch der Älteste. Und der Erfolg gibt ihm ohnehin Recht.
Das Gespräch führte Eberhard Spaeth
„Keine Ahnung, ich spiele nach meinen eigenen Regeln!“ Bei der Frage nach seiner Meinung zu den Regeländerungen für die kommende Saison lacht Philipp Müller in Anspielung auf seinen Ruf als „Raubein“, der in der Bundesliga noch ausgeprägter ist als bei seinem Zwillingsbruder. Allerdings nur kurz: „Im Ernst: Das ist ein heikles Thema.“
Schnell abgehandelt ist für ihn die neue Blaue Karte: „Die braucht kein Mensch.“ Abwarten müsse man dagegen, wie sich die Begrenzung auf sechs Pässe bei angezeigtem Zeitspiel in der Praxis auswirkt: „Das wird sich hoffentlich regulieren. Vielleicht passen sich die Schiedsrichter an, indem sie etwas zurückhaltender den Arm heben.“ Michael Müller sieht das noch etwas kritischer: „Mir graut ein wenig bei der Vorstellung, dass 10 000 Zuschauer in Kiel mitzählen wie beim Volleyball: Eins! Zwei! Drei! Zudem kann es neuen Streit geben: War das jetzt schon der erste Pass bei Zeitspiel, oder war der noch davor?“
Einig sind sich die Zwillinge darin, dass nicht diese Regel die größte Umstellung von den Mannschaften erfordern wird, sondern vielmehr der mögliche Einsatz von sieben gleichberechtigten Feldspielern ohne Torwart: „Das finde ich richtig krass, denn es wird das Spiel wirklich verändern“, sagt Philipp. Bisher sei der Spieler mit dem Leibchen nämlich meist relativ harmlos geblieben, weil er immer an den Rückwechsel mit dem Torwart denken musste: „Jetzt können aber alle sieben Spieler den gleichen Druck ausüben, weil nach Ballverlust einfach der mit dem kürzesten Weg zur Bank wechseln kann.“ Melsungens Trainer Michael Roth habe dafür schon die eine oder andere Variante angekündigt. „Es wird sehr interessant, das unter Wettkampfbedingungen in Rio zu sehen.“
Unterschiedliche Ansichten haben die Müller-Brüder dagegen nicht ganz unerwartet zu der neuen Regel, dass ein auf dem Feld behandelter Spieler für drei Angriffe aussetzen muss. „Da fällt das Herumlungern auf dem Platz weg“, sagt Abwehrspezialist Philipp. „Und es kommt möglicherweise den Abwehrspielern entgegen, weil der Angreifer nicht mehr so leicht auf den Gedanken kommt: Jetzt bleibe ich mal liegen, um dem Müller eine Strafe anzuhängen.“
Etwas andere Sorgen hat dagegen Michael Müller als nahezu alternativloser Leistungsträger im Angriff, der viel einstecken muss. „Ich lasse es schon jetzt nicht ohne Not so weit kommen, dass die Physiotherapeutin aufs Feld kommt“, sagt der 78-fache Nationalspieler und scherzt: „Jetzt werde ich vielleicht noch selbst ein Eisspray im Socken dabei haben.“ Entscheidendes Kriterium für die neue Regel ist es jedoch, ob ein Schiedsrichter die Betreuer aufs Feld winkt. „Wenn er will, kann er damit das Spiel ganz schön beeinflussen“, sagt Michael Müller. „In der letzten Spielminute einen Spieler für drei Angriffe zum Aussetzen zu zwingen, ist fast wie eine Zeitstrafe!“
Eine nahe liegende Lösung wäre es, wenn die Schiedsrichter den angeschlagenen Spieler fragen würden, ob er eine Behandlung wünscht. Da ist Philipp Müller aber skeptisch: „Gute Idee! Nur fürchte ich, viele Schiedsrichter wollen gar nicht kommunizieren – schon gar nicht mit Spielern, die sie nicht mögen. Ich glaube jedenfalls, es gibt nur wenige Schiedsrichter, die mich fragen würden.“