Schläge mit dem Lineal
„Bohnern, bügeln, nähen“, der Alltag des Kindes Dietrich besteht aus Arbeit. Und wenn die nicht so ausfällt, wie sich das gehört: „Schläge mit dem Lineal auf die Finger.“ Dietrich Klein erinnert sich auch an Schläge in den Nacken. Auch wenn er als zwangsverpflichteter Messdiener sein Latein nicht ordentlich herbeten konnte, bedeutete das Schmerzen. „Prügel waren völlig normal. Ins Gesicht haben sie uns nie geschlagen. Immer nur so, dass man die blauen Flecken nie sofort sehen konnte“, erinnert sich der ehemalige Hofer.
Als er größer wird, verprügeln ihn die Schwestern nicht mehr. Der Alltag bleibt dennoch hart. Da er nun zu den Älteren gehört, muss er noch mehr Pflichten übernehmen. Dazu gehört, sich um die Kleinen zu kümmern. „Früh mussten wir sie waschen und anziehen, abends brachten wir sie ins Bett und holten sie um 23 Uhr noch mal raus, damit sie aufs Klo gingen und nicht ins Bett machten.“ Sind die Kinder eingeschlafen, können Dietrich und seine Kumpel aus dem Heim kurz fernsehen. Das ist die Freizeit, der Rest: Schule, Hausaufgaben und später eine Lehre, die der immer wieder gedemütigte Jugendliche schmeißt.
Übel belogen
Vorher arbeitet er auch im Heim, er hilft, Ordnung im Büro zu halten. Als er Akten über die Heimkinder in Händen hält, entdeckt er, dass er übel belogen worden war. „Meine Mutter war nicht tot. Sie war in eine Bayreuther Heilanstalt gekommen, weil sie nach der Behandlung nach dem Bombenangriff auf den Flüchtlingszug morphiumsüchtig geworden war“, erzählt der 68-Jährige. Er stellt die Schwestern zur Rede. Doch nur einmal darf er sie sehen. Erst Jahre später soll das Rote Kreuz die Familie wieder zusammenführen.
Inzwischen ist das Leben in dem Heim im Hofer Bahnhofsviertel für den 14-Jährigen weniger angstbefrachtet. An die Stelle zweier Schwestern, die Dietrich fürchtete, treten zwei jüngere Frauen des Ordens, die sich um die älteren Jungs kümmern. Sie sind milder, die Tage der Härte scheinen vorbei.
Missbrauch durch die 30 Jahre alte Schwester
„Ich habe mich in die eine Schwester verknallt“, erzählt Dietrich Klein. Die beiden seien abseits der anderen zusammengesessen, geturtelt hätten sie. „Vom Heiraten haben wir auch gesprochen. Was man halt so glaubt als junger Kerl.“ Die 30-jährige Schwester bindet den 14-Jährigen an sich. Er vertraut ihr, ist sich sicher, dass sie seine Gefühle erwidert – Jugendflausen nennt er das heute. Als sie sich auf die Bettkante neben ihn setzt und ihn sexuell bedrängt, macht er mit. Der unerfahrene Junge lässt es über sich ergehen. „Es hat wehgetan, aber sie hat nicht aufgehört.“ In diesen immer wiederkehrenden Minuten in dem Hofer Heim setzt sich ein Trauma fest, das er nie loswerden soll.
Die Bilder der Gewalt setzen sich fest. Klein fängt sich aber mit der Zeit, äußerlich. Er bringt eine Lehre zu Ende, heiratet zwei Mal, heute ist er mehrfacher Großvater. Aber ruhig wird es in ihm nie. Er besucht keinen Therapeuten, seine beiden Ehefrauen lässt er im Dunkeln, macht nur Andeutungen. Irgendwann formt sich aber der Gedanke in ihm, dass er nicht sterben will, ohne irgendetwas unternommen zu haben. Er beschließt, zu kämpfen. Er will Anerkennung als Opfer. Er will, dass sich der Orden entschuldigt und ihn entschädigt. Jahrzehnte nach seinen Hofer Jahren.
Opferschutzgestz trat erst später in Kraft
Aber der Kampf beginnt holprig. Das Zentrum Bayern Familie und Soziales kommt zum Schluss, dass er Opfer von Gewalttaten geworden war, aber: Dies geschah vor dem 16. Mai 1976. An diesem Tag trat das Opferschutzgesetz in Kraft. Für alles, was vorher geschah, sieht der Staat keine Entschädigung vor. Dietrich Klein hätte dazu eine Schwerbeschädigung davontragen müssen. Das Gutachten bescheinigte ihm jedoch nur eine „partielle posttraumatische Belastungsstörung“. Seine Anwältin wandte sich daher an den Orden und an die Kirche. 10 000 Euro – damit war Dietrich Klein bezahlt.
„Entschuldigt hat der Orden sich auch“, sagt der Rentner aus Schleswig Holstein. Seine Kindheit und seine Jugend aber verfolgen Dietrich Klein stetig. Es war immer sein großes Geheimnis, das soll vorbei sein. „Ich will nichts mehr in mich reinfressen. Ich will endlich, dass Frieden in mein Leben einkehrt.“
Hintergrund: Erschütterte Kirche
Der Skandal um den jahrzehntelangen sexuellen Missbrauch vieler Kinder und Jugendlicher in Einrichtungen der katholischen Kirche erschütterte 2010 ganz Deutschland. Ein Rückblick:
Januar 2010: Am Berliner Canisius-Kolleg der Jesuiten werden erste Verdachtsfälle bekannt. Ein Untersuchungsbericht enthüllt später, dass der Orden sexuelle und körperliche Gewalt gegen Kinder über Jahrzehnte vertuscht hat.
März 2010: Der Skandal erreicht die Regensburger Domspatzen. Es wird bekannt, dass es auch bei dem weltberühmten Knabenchor Fälle von Missbrauch gegeben haben soll.
Juni 2010: Bei einer Messe auf dem Petersplatz in Rom bittet der damalige Papst Benedikt XVI. die Missbrauchsopfer um Vergebung.
August 2010: Die deutschen Bischöfe verständigen sich auf neue Leitlinien zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch durch Geistliche.
März 2011: Die Bischofskonferenz kündigt an, dass die Kirche jedem minderjährigen Opfer bis zu 5000 Euro Entschädigung zahlen und Therapiekosten übernehmen wird.
Januar 2014: Es wird bekannt, dass der frühere Papst Benedikt XVI. 384 Priester wegen Kindesmissbrauchs entlassen hat.
März 2014: Die katholische Kirche in Deutschland startet ein Forschungsprojekt zur Aufarbeitung des Themas.
Juli 2014: Papst Franziskus trifft erstmals Opfer sexuellen Missbrauchs durch katholische Geistliche aus Deutschland, Irland und Großbritannien.
Juni 2015: Mit einer neuen juristischen Instanz will der Vatikan härter gegen Bischöfe vorgehen, die Kinder nicht vor sexuellem Missbrauch durch Geistliche schützen.
Oktober 2016: Mittlerweile haben sich mehr als 400 ehemalige Sänger der Regensburger Domspatzen gemeldet, die von Lehrern und Priestern über Jahrzehnte körperlich misshandelt worden waren. Dutzende wurden sexuell missbraucht. Die Opfer sollen bis Ende 2017 finanziell entschädigt werden. (dpa)