Luftrettung: Zwischen Traumsicht und Tod

Von Andrea Pauly

Wenn das Team der ADAC-Luftrettung mit dem Helikopter Christoph 20 am Klinikum startet, wissen die Crewmitglieder nie, was sie erwartet: Ein Toter an einer Bahnstrecke, eine Schülerin mit Kreislaufzusammenbruch und ihr weinender Vater, eine ältere Dame mit Atemnot – in nur wenigen Stunden erleben Notarzt, Pilot und Sanitäter Situationen, die andere in Angst und Schrecken versetzen. Tag für Tag, von Sonnaufgang bis Sonnenuntergang.

 
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Der Dienst der ADAC-Luftrettung beginnt jeden Morgen um 6.30 Uhr und endet mit Sonnenuntergang. Die Leitstelle alarmiert das Team immer, wenn der Notarzt mit dem Hubschrauber schneller beim Patienten ist als mit dem Auto. Kein Tag ist gleich: „Manchmal haben wir acht Einsätze an einem Tag, manchmal ist es nur einer“, sagt Stationsleiter und Pilot Daniel Hecht, der im Hangar nur Hector genannt wird.

 

 

Hector entscheidet, ob es sicher ist oder nicht

Er ist der einzige Nicht-Mediziner im Team. Und doch ist der 39-Jährige der, in dessen Händen das Leben aller Passagiere liegt. Hecht hat bei der Bundeswehr gelernt, Hubschrauber zu fliegen. „Ich hab‘ halt schon in der Schule gerne aus dem Fenster geguckt. Das mache ich heute noch“, sagt er grinsend.

Er entscheidet, wann es sicher ist, abzuheben: Nebel, tief hängende Wolken, Gewitter, dichter Schnee, Eisregen – das alles kann im Hubschrauber lebensgefährlich werden. Deshalb lehnt Daniel Hecht manche Flüge ab, wenn am Zielort oder auf dem Weg dorthin Nebel ist. „Dann ist der Transport mit dem Rettungswagen sicherer.“

 

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Drei Leute, eine Crew

Zur Crew gehören immer drei Personen: Ein Notarzt, ein Pilot und ein HEMS TC – ein Rettungssanitäter als Bindeglied zwischen Medizin und Technik. Jürgen „Gonzo“ Ganzleben, der stellvertretende Rettungsdienstleiter des Bayreuther BRK, ist einer von ihnen. Er fliegt seit 17 Jahren im Christoph 20 mit.

Nach zwei Minuten in der Luft

Wenn der Melder in der Tasche brummt, lassen Hector und Gonzo alles liegen und stehen. Ihre entspannte Haltung weicht höchster Konzentration, die Routine nach Tausenden Einsätzen greift. Der Pilot geht zum Hubschrauber und steigt auf den Sitz vorne rechts. Während Notärztin Dr. Sandra Ebert-Fillmer aus dem Klinikum auf dem Startplatz ankommt, ihr Fahrrad hinwirft und zum Helikopter geht, startet Hecht die Motoren. Ebert-Fillmer und Ganzleben setzen fast gleichzeitig ihre Helme auf und steigen ein. Sie schließen die Türen, der Helikopter hebt ab. Keine zwei Minuten sind seit der Alarmierung vergangen.

 

20 mal 20 Meter zum Landen

Über Funk sind alle drei mit der Leitstelle in Kontakt. Der Pilot und der Sanitäter kennen die Region – schon bevor sie das Dorf erreichen, aus dem der Notruf kam, überlegen sie, wo sie landen könnten. 20 mal 20 Meter braucht Hector, möglichst ohne Gartenmöbel, Wäschespinnen, Planen und andere lose Teile in unmittelbarer Nähe. „Da fliegt auch schon mal ein Sonnenschirm durch die Gegend“, sagt der Pilot. „Aber das ist nicht so wichtig wie die Patienten.“ Währenddessen bereitet sich die Notärztin auf dem Rücksitz auf den Einsatz vor.

Immer weniger Verkehrsunfälle

Es geht um eine ältere Dame, Verdacht auf Herzinfarkt. Das ist der Klassiker: Der allergrößte Teil der Einsätze für die Luftrettung sind so genannte interne oder neurologische Notfälle wie Herz- und Kreislaufprobleme, Krampfanfälle oder Bewusstlosigkeit.

Die Verkehrsunfälle, wegen der die Luftrettung gegründet wurde, machen heute nur noch rund zehn Prozent der Einsätze aus. „Auf der A9 und der A70 passiert kaum noch was wegen der Geschwindigkeitsbegrenzungen und der Autos, die immer sicherer werden“, sagt Ganzleben. „Aber wenn etwas passiert, dann ist es meistens umso schlimmer.“

Nicht nur Pilot, auch Helfer

Kaum ist der Hubschrauber am Boden, sind Ebert-Fillmer und Ganzleben bereits auf dem Weg zur Patientin. Wenn es die Umstände erlauben, bleibt auch Hecht nicht die ganze Zeit am Landeplatz, sondern begleitet die Besatzung zum Patienten. Erstens interessiert ihn, was passiert. Zweitens hilft er: Mal trägt er eine Tasche fürs Krankenhaus, mal packt er an, wenn ein Mensch aus dem Haus gebracht werden muss, mal spricht er mit Angehörigen, während die Mediziner ihre Arbeit machen. Wenn allerdings am Einsatzort  viele Menschen sind oder dort viel Verkehr ist,  sichert er den Hubschrauber.

 

"Man weiß immer, dass der Tod dazu gehört"

Hector ist ein lebensfroher und fröhlicher Mensch, er hat immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Das ist seine Art, mit seinem Job umzugehen. Aber er ist sich immer bewusst, welche Bedeutung seine Arbeit hat. „Man weiß immer, dass der Tod dazugehört“, sagt er. „Und man sieht die Abgründe der Menschheit“, sagt Hecht. Gerade das lässt ihn das Leben mehr genießen.

Anderen hilft das Bewusstsein, dass sie nicht die Schuld an den Unfällen oder Erkrankungen tragen. Alle, die bei der Luftrettung arbeiten, wissen: Wenn sie den Einsatzort verlassen, fängt für die Patienten und die Angehörigen die schwere Zeit oft erst an. Aber sie waren da, um den Betroffenen zu helfen.

Lockere Sprüche heben die Laune

Daniel Hecht sorgt mit seinen Sprüchen auf den Flügen für gute Laune. Er kann sich ein wenig abgrenzen: Wenn er über Funk hört, dass es am Einsatzort ein schreckliches Bild geben könnte, hält er sich im Hintergrund. Diese Wahl hat Jürgen Ganzleben nicht. Er ist der Gegenpol zu Daniel Hecht, strahlt Ruhe aus; ebenso wie sein Kollege Rainer Kutzer, der seit mehr als 20 Jahren Rettungssanitäter ist. „Unser Beruf lehrt Demut“, sagt er. Für alle Crewmitglieder gibt es psychologische Betreuung nach schweren Situationen.

Schlimm wird es, wenn Kinder betroffen sind

Bei gut fünf Prozent der Einsätze waren in diesem Jahr Kinder betroffen. „Das sind die  wirklich schlimmen Einsätze“, sagt Jürgen Ganzleben. Denn die meisten von ihnen haben selbst Kinder. Hectors Sohn ist sieben, Rainer Kutzers Kinder sind bereits Teenager. Die Luftretter wissen: Gesundheit ist nicht selbstverständlich. Sie wissen auch: Was für sie ein Einsatz von vielen ist, ist für die Betroffenen ein Schock. Sie sind einfühlsam und verständnisvoll, finden beruhigende Worte. Als sie gerufen werden, weil eine Jugendliche zusammengebrochen ist, haben sie auch für die Eltern ein paar liebe Worte. Sie sind nicht nur Mitglieder der Crew. Sie sind auch selbst Väter. Auch die Notärzte funktionieren nicht einfach, sondern beruhigen und trösten ihre Patienten, während sie sie behandeln.

Hubschrauberfliegen ist wunderschön

Gerade auf den Rückflügen, wenn die Patienten stabil und auf dem Weg ins Krankenhaus sind, machen sowohl der Pilot als auch der Rettungssanitäter auch Späße. Da können sich auch die Notärzte manchmal Grinsen nicht verkneifen. Und der Pilot und der Sanitäter haben nicht nur einen Blick für Stromleitungen, Windräder, Masten und Türme, denen sie nahe kommen: Sie freuen sich auch über buntes Herbstlaub, schöne Sonnenaufgänge und schönes Wetter und den Ausblick auf ihre Heimat, wie ihn die meisten Menschen niemals sehen. Ein Hubschrauberflug ist einfach etwas Besonderes.

 

Die Patientin bietet eine Brotzeit an

Im Fall der Seniorin geht es nicht um Leben und Tod. Die Dame ist ansprechbar. Schnell zeigt sich: Es ist nicht das Herz, sondern der viel zu hohe Blutdruck. Gemeinsam kümmern sich die Sanitäter und die Ärztin um die Seniorin, der es nach einem Medikament schnell besser geht. Sie will den Helfern gar eine Brotzeit anbieten. Die lehnen dankend ab und bringen die Dame mit vereinten Kräften in den Rettungswagen. Dort versorgt Sandra Ebert-Fillmer die Patientin weiter. „Das ist ein kleines fahrendes Krankenhaus, da ist alles drin“, sagt Ganzleben.

Fahrt mit dem Rettungswagen kann sicherer sein

Im Hubschrauber gibt es viel weniger Möglichkeiten: „Wenn ich einen Patienten im Hubschrauber transportiere, muss ich alle Vorbereitungen vorher getroffen haben“, sagt Sandra Ebert-Fillmer. „Da ist viel zu wenig Raum für Behandlungen.“ Ob ein Patient nach der Versorgung mit dem Hubschrauber ins Klinikum kommt, entscheidet der Notarzt vor Ort. „Manchmal ist es besser, den Patienten im klimatisierten Rettungswagen mit mehr Ausstattung und Platz zu transportieren, auch wenn es länger dauert“, sagt Sandra Ebert-Fillmer.

Auf den Einsatz folgt die Dokumentation

Die Patientin ist bei den Sanitätern im Rettungswagen gut aufgehoben; Sandra Ebert-Fillmer kehrt mit der Luftrettung zurück zum Klinikum. Insgesamt haben Hin- und Rückflug 14 Minuten gedauert. Ab jetzt befassen sich der Pilot und der Sanitäter sowie die Ärztin mit Papierkram: Der Einsatz wird dokumentiert, sowohl die medizinische Versorgung als auch die Flugminuten, Mitflieger und Zielort. Nun findet das Team auch heraus, dass es während des Flugs und der Versorgung der Patientin zwei weitere Notrufe gab – andere Notärzte haben diese Fälle übernommen und sind mit dem Auto zu ihnen gefahren.

Auch die Luftrettung kommt manchmal zu spät

Immer wieder sind Patienten überrascht, wenn der Notarzt mit dem Helikopter ankommt, sagt Sandra Ebert-Fillmer. „Sie sagen dann: So schlimm ist es doch gar nicht, das hätte es doch nicht gebraucht.“

 

Manchmal fliegen die Luftretter auch aus und können nichts mehr tun: Das kommt vor, wenn die Leitstelle eine „leblose Person“ meldet. Manchmal ist das ein Bewusstloser, manchmal ein Suizid. Oder es gibt den natürlichen Tod eines alten Menschen, der beispielsweise  sonntagmorgens von den ahnungslosen Angehörigen entdeckt wird, die zu Besuch kommen. Immer wieder muss die Besatzung der Luftrettung damit klarkommen, dass sie nicht mehr retten kann. Und es gibt die Fälle, in denen sie zu spät kommen. Auch dann dürfen sie sich davon nicht entmutigen lassen. „Wenn es um Sekunden geht, kommen auch wir zu spät“, sagt Jürgen Ganzleben.
 

Danach müssen sie in Sekunden umschalten: Vom Toten am Bahngleis zum Verdacht auf Herzinfarkt zur plötzlichen Geburt. Jeder Patient ist gleich wichtig, jeder bekommt die volle Konzentration der Luftretter - egal, was noch eine halbe Stunde vorher war.

Bei Sonnenuntergang: Feierabend

Ein Plan bestimmt, ab wann Christoph 20 im Hangar bleibt. Darin ist der Zeitpunkt des Sonnenuntergangs für jeden Tag vermerkt. Dann meldet Daniel Hecht das Team in der Leitstelle ab: „Sonne weg, Hector weg. Bis morgen!“

 

Mehr über Christoph 20:

Zur Besatzung des Rettungshubschraubers gehören drei Personen: Notarzt, Pilot und das HEMS TC (Helicopter Emergency Medical Service Technical Crew Member), das den Piloten technisch und den Notarzt medizinisch unterstützt. Insgesamt teilen sich drei Piloten des ADAC, sechs HEMS TCs vom BRK und 21 Ärzte aus dem Klinikum die Dienste in der Luftrettung. Die Finanzierung übernehmen die Krankenkassen.

Rund 200.000 Rettungseinsätze mit Hubschraubern gibt es pro Jahr in Europa pro Jahr, davon mehr als die Hälfte in Deutschland. Die Rettungshubschrauber heißen alle Christoph nach dem Schutzpatron der Reisenden, 77 gibt es davon in Deutschland.

Die nächsten Rettungshubschrauber sind in Suhl, Weiden und Nürnberg stationiert. Nur von drei Standorten in Bayern fliegen auch in der Dunkelheit Helikopter zu Notfalleinsätzen: Aus Regensburg, Nürnberg und München.

Der Christoph 20 würde in der aktuellen Version inklusive medizinischer Ausstattung 5,5 Millionen Euro kosten. Bis zu 2835 Kilo Gesamtgewicht darf er haben, das Leergewicht liegt bei etwa 1,8 Tonnen. Der Verbrauch liegt bei durchschnittlich 13.000 Litern im Monat, im Sommer bei 15.000 Litern. Mit einer Tankfüllung kann Christoph 20 etwa 2,5 Stunden lang fliegen - das entspricht etwa 500 Kilometern.

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