Das Problem ist die Ungerechtigkeit Kommentar: Flüchtlinge damals und heute

Von Joachim Braun
Rund eine Million Menschen feierten in der Nacht zum 3. Oktober 1990 in Berlin wie hier vor dem Reichstagsgebäude die wiedergewonnene deutsche Einheit. Foto: Wolfgang Kumm/dpa Foto: red

In seinem Kommentar zum 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Wiedervereinigung, vergleicht Kurier-Chefredakteur Joachim Braun die Flüchtlinge von damals und heute.

 
Schließen

Diesen Artikel teilen

Erinnern Sie sich noch daran, was Sie am 3. Oktober 1990 gemacht haben? Wo Sie waren? Kaum. Warum auch, der 3. Oktober ist lediglich das Vollzugsdatum für die deutsche Einheit, das Enddatum der DDR. In den Herzen der Menschen indes war die Wiedervereinigung bereits am 9. November 1989 gelaufen, mit dem Fall der Mauer. Was dann passierte, ab Ende 1989, erinnert irgendwie an heute.

Scharen von Wirtschaftsflüchtlingen trieb es, aus der DDR kommend, in unser Land. Mit knatternden Automobilen der Marke Trabant trieb es sie über die Grenze, die Luft mit blauem Qualm erfüllend, auf der Suche nach Arbeit und nach Wohlstand. Von „Ossis“ war bald geringschätzig die Rede, und die Sorge, dass die Einwanderer den Einheimischen die Arbeit wegnehmen würden, wurde öffentlich diskutiert. Klar gab es auch ehrenamtliche Helfer, die sich der Neuankömmlinge annahmen, aber wirklich willkommen geheißen wurden sie von den meisten Menschen in den alten Bundesländern nicht. Nicht einmal von jenen, die am Tag des Mauerfalls Tränen der Rührung geweint hatten.

Zumal die Zuwanderer auffielen, nicht durch ihre Kleidung oder die Hautfarbe, sondern die Sprache: Sächsisch, thüringisch – bis dahin hatten wir im Westen diese Dialekte selten gehört. Immerhin: Religiös unauffällig waren die meisten dieser Neuankömmlinge, schließlich war die DDR ein Land der Atheisten. Und gefragt waren sie doch, bei den Unternehmen. Viele der „Wirtschaftsflüchtlinge“ (setzen wir es mal in Anführungszeichen) waren schließlich gut ausgebildet. Zurück in den neuen Bundesländern oder im „Beitrittsgebiet“, wie die ehemalige DDR ab dem 3. Oktober 1990 hieß, blieben Alte, Frauen und Kinder.

Ist das alles übertrieben? Ganz gewiss. Falsch? Eigentlich nicht. Vor allem aber zeugen die Parallelen zu heute, zur Flüchtlingskrise, davon, was Angela Merkel, die Ostdeutsche, kürzlich sagte: „Wir schaffen das.“

Ja, wir haben es geschafft. Die deutsche Einheit war und ist eine Mammutaufgabe, ein Generationenwerk, aber gerade junge Menschen differenzieren längst nicht mehr zwischen Ost und West. Das eine Deutschland ist für sie gelebte Realität. Weiterhin gibt es Mentalitätsunterschiede zwischen Menschen, die in der DDR groß geworden sind und jenen aus dem Westen. Aber gibt es die nicht auch zwischen Franken und Schwaben?

Dass der eine Landesteil, der zwei Generationen Diktatur erlebt hat, anders tickt als der andere, der 41 Jahre lang Demokratie aufbauen konnte, ist doch nach erst 25 Jahren Miteinander selbstverständlich. Haben wir also Geduld und geben uns Zeit (auch in Anbetracht von Pegida und anderen undemokratischen Auswüchsen, gegen die wir gemeinsam ankämpfen müssen).

Die Lehren aus der Geschichte sollten wir aber trotzdem ziehen, gerade in der jetzigen Zeit, da nicht allein die CSU den Eindruck vermittelt, der Untergang unserer Gesellschaft stehe knapp bevor. Falsch. Unsere Gemeinschaft hat schon ganz andere Herausforderungen bewältigt. Damals, vor 25 Jahren, als die Politik (in Person von Helmut Kohl) die anstehenden Probleme wagemutig anging.

Das größte Problem – derzeit – ist darum nicht die Zahl der Flüchtlinge. Es ist die Ungerechtigkeit, dass sich in der Krise ein Teil Europas mehr engagiert als der andere. Dass die viel beschworene Wertegemeinschaft offenbar an Egoismen einer Zahl von EU-Staaten zerschellt ist. Das offenbart die Grenzen eines Staatenbundes.

Der Bundesstaat Deutschland kannte diese Probleme vor 25 Jahren nicht. Die Wiedervereinigung war ein Gemeinschaftsprojekt, an dem kein Zweifel möglich war. Und seien wir ehrlich: Die deutsche Einheit hat unser Land nicht nur größer gemacht, sondern auch (wirtschaftlich) stärker und kulturell vielfältiger. Trotz aller Opfer, die gebracht wurden, hat sich der Einsatz längst gelohnt. Dies sollten wir nicht vergessen, wenn wir über „Asylmissbrauch“ (welch dummer Begriff über ein grundgesetzlich definiertes Recht) oder eine angeblich drohende „Überfremdung“ diskutieren. Was wir vor 25 Jahren geschafft haben, wird uns auch heute gelingen.