Sie sagten vorhin, Sie seien im Probenbetrieb eingebunden: Sind Sie so allgegenwärtig wie Ihr Vater, der – so erzählt man sich – immer wieder auf Probebühnen auftauchte und im Zuschauerraum saß und immer alles wusste, was passiert?
Wagner: Ich würde sagen, wir sind da, wenn wir gebraucht werden. Wenn ein Regisseur den Diskurs über seine Arbeit mit uns sucht, freuen wir uns sehr, drängen uns aber nicht auf. Denn das Entscheidende ist: Für meine Schwester und mich steht die künstlerische Freiheit ganz oben. Man engagiert ja Künstler, weil man Ihnen etwas zutraut – stimmlich, ästhetisch, interpretatorisch. Je mehr Leute mitreden, desto schlechter kann das Ergebnis werden. Ich habe es als Regisseur selbst auch nicht gern, wenn sich ein Intendant künstlerisch in meine Inszenierungen einmischt. Es gibt aber immer wieder Probleme, die nur die Geschäftsführung lösen kann – insbesondere solche, die sicherheitstechnisch, tarifvertraglich oder budgetär relevant sind. Nehmen Sie zum Beispiel die Orchesterhauptprobe der „Götterdämmerung“: Es gab an einer Stelle szenische Unklarheit, also haben wir die Probe um 20 Minuten verlängern müssen. Wir haben die Techniker gebeten, länger zu bleiben. Solche Dinge zur Zufriedenheit aller zu erledigen – auch dazu sind wir da. Aber nicht, um uns künstlerisch reglementierend dazwischenzustellen.
Vor einigen Wochen ist öffentlich geworden, dass nach der Spielzeit 2014 der „Tannhäuser“ von Sebastian Baumgarten abgesetzt wird ...
Wagner: ... richtig, er wird aus dem Spielplan genommen.
Ja, ein Jahr früher als geplant. Was bedeutet das aus künstlerischer Sicht? Dass Sie die Inszenierung rezeptionsgeschichtlich aufgeben?
Wagner: Nein, die Spielplangestaltung und unsere bekannte Situation bezüglich der begrenzten Lagerflächen sieht vor, dass entweder „Tannhäuser“ oder „Lohengrin“ aus dem Spielplan genommen werden muss.
Und warum den „Tannhäuser“?
Wagner: Weil der „Tannhäuser“ im Volumen der Ausstattung größer ist als der „Lohengrin“. Wenn wir den „Lohengrin“ rausgenommen hätten, hätten die Leute gesagt: Wie können Sie das Stück mit den niedlichen Ratten absetzen, die mögen doch alle so gern. Die Entscheidung ist für „Lohengrin“ gefallen, nicht unbedingt gegen „Tannhäuser“.
Welche Rolle spielt bei solchen Entscheidungen der Publikumsgeschmack?
Wagner: Ich glaube, „den“ Publikumsgeschmack gibt es nicht. In jeder Vorstellung sitzen knapp 2000 Individuen, und jeder nimmt eine Aufführung anders wahr. Es passiert immer wieder, dass nach derselben Vorstellung Zuschauer auf mich zukommen und schimpfen, und andere sagen, das war genial.
Es gibt aber doch eine sehr große Gruppe der Traditionalisten, die progressive Inszenierungen eben in Kauf nehmen, obwohl sie lieber einen Lohengrin in Rüstung und einen Holländer mit zwei Schiffen hätten.
Wagner: Das würde ich nicht sagen. Nehmen Sie nur den „Lohengrin“ von Hans Neuenfels – der wurde im ersten Jahr abgelehnt und inzwischen wird er geliebt. Die Leute denken ja auch nach über das, was sie da gesehen haben, Eindrücke müssen sich erst einmal setzen.
Das könnte natürlich auch daran liegen, dass die Zuschauer, die die Deutung ablehnen, gar nicht mehr nach Bayreuth kommen. Und eben nicht „buh!“ rufen, sondern sagen: Bayreuth, das brauche ich nicht mehr.
Wagner: Der eine oder andere mag so denken. Das Publikum fluktuiert ohnehin stärker als früher. Aber würde man vorsichtig nur auf möglichst breites „Gefallen“ setzen, wäre das gewiss ebenso falsch wie kompromisslose Avantgarde. Die Inszenierungen in Bayreuth haben zwar immer wieder das Publikum polarisiert, manchmal auch provoziert, jedoch nie aus purer Freude daran. Stets waren es bestimmte künstlerische Konzepte, die für Aufsehen sorgten und teilweise für Verstörung. Und das Publikum, ein doch sehr fachkundiges und informiertes in Bayreuth, hat sich mehrheitlich auseinandergesetzt mit den oft unvertrauten Bildern, die die Bühne zeigte. Einige entschieden – und entscheiden eben heute auch – wegbleiben zu wollen, andere rückten und rücken nach. Unser Publikum ist alles andere als homogen, und es ist gebildet, offen und neugierig. Für viele Mitglieder der internationalen Wagner-Verbände war der Festspielbesuch ein regelmäßiger Höhepunkt im Jahr. Die Fahrt nach Bayreuth war fester Bestandteil des Verbandswesens. Die Verbände tun ja auch viel für uns, sie kümmern sich mit dem Stipendiatenprogramm intensiv um junge Künstler, von denen gar nicht wenige irgendwann in Bayreuth dann mitwirken. Die Entscheidung, den Verbänden die bevorzugte Kartenzuteilung zu streichen, hatte natürlich Auswirkungen. Aber um über dieses Thema zu sprechen, haben Sie die falsche Person vor sich.
Nimmt sich da Bayreuth selbst das Publikum weg?
Wagner: Im Moment nicht, weil wir nach wie vor ausverkauft sind, statistisch gesehen sogar mehrfach.
Wenn also 2015 auf dem Spielplan der Gloger-„Holländer“, der Castorf-„Ring“ und ein Katharina-Wagner-„Tristan“ stehen, also eher keine traditionelle Deutung und – aller Voraussicht nach – auch eher keine Publikumslieblingsinszenierung: Dann hat das keine Auswirkungen auf die Nachfrage?
Wagner: Es hält sich hartnäckig das Gerücht, unser Publikum sei überwiegend erzkonservativ. Ist es aber nicht, das ist ein absolutes Vorurteil. Die Besucher wollen diskutieren; ich bin durchaus der Meinung, dass unser Publikum aufgeschlossen und bereit ist, das ganz aktiv zu rezipieren, was sie erleben. Das heißt ja nicht, dass jeder permanent alles gut finden müsste. Man kann offen eingestellt sein und trotzdem etwas nicht gut finden. Ich glaube nicht, dass dahinter automatisch eine konservative Haltung steckt.
Dann schreien die anderen nur einfach lauter?
Wagner: Ärger und Wut werden häufig noch lauter ausgedrückt als Begeisterung.
Oder er wendet sich still ab und kommt nicht wieder.
Wagner: Und wenn, dann ist es sein gutes Recht.
Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Hakenkreuz auf der Brust von Evgeny Nikitin und einem Hitlergruß von Jonathan Meese?
Wagner: Der Unterschied liegt meines Erachtens darin, dass Herr Meese die deutsche Geschichte in all ihren Schattierungen kennt und seine Performances aus dieser Kenntnis heraus entstehen.
Können Sie verstehen, dass es Leute gibt, die das verstört?
Wagner: Ja.
Können Sie verstehen, dass Leute Ihre Entscheidung verstörend finden, Herrn Meese in Bayreuth zu engagieren?
Wagner: Ich bin mir sicher, dass Herr Meese um die Sensibilitäten weiß, die aus der Bayreuther Geschichte resultieren. Er hat jetzt in einem Interview mit dem „Spiegel“ gesagt, er werde Künstler zu nichts zwingen, was sie nicht wollen. Er differenziert da klar – wenn er selbst auf der Bühne steht, tut er bestimmte Dinge, um sie kritisch zu durchleuchten, er zwingt aber niemanden anderen, das in der gleichen Weise zu tun.
Wie sehr nützt es den Bayreuther Festspielen, wenn man jetzt in diesem Ton über Meese spricht?
Wagner: Es wäre gut, wenn man sich zunächst mal auf das konzentrierte, was jetzt gerade aktuell ist. Wir haben einen neuen „Ring“, wir haben einen neuen „Tannhäuser“-Dirigenten. Es gibt genug Dinge, die hier in spannender Weise passieren. Über etwas zu reden, was noch nicht stattgefunden hat, und darüber zu mutmaßen, was in drei Jahren sein könnte, halte ich für spekulativ. Wenn Herr Meese 2016 den „Parsifal“ inszeniert haben wird und wir uns alle davon ein Bild machen konnten, dann kann man anfangen, über die konkrete Inszenierung zu diskutieren.
Dann lassen Sie uns über den „Ring“ sprechen. Auch über das Engagement von Frank Castorf ist ja in der Öffentlichkeit sehr viel gemunkelt und geunkt worden. Wie lief die Arbeit tatsächlich?
Wagner: Professionell, normalerweise ruhig, souverän und konzentriert auf die Sache. Die meisten Regisseure schöpfen die Probenzeit, die ihnen noch vor dem Abschluss ihres Engagements bekannt ist, voll aus. Jeder Regisseur hat aber die Freiheit, mit den Probendispositionen in seiner Weise umzugehen.
Wie weit planen Sie jetzt in die Zukunft?
Wagner: Notwendigerweise planen wir jetzt bis 2019, damit wir auch die Künstler kriegen, die international gefragt sind.
Ihre Verträge laufen bis 30. September 2015. Juristisch laienhaft gefragt: Dürfen Sie überhaupt so weit planen?
Wagner: Ja, dafür haben wir die Zustimmung des Verwaltungsrats. Stellen Sie sich vor, Sie würden erst 2015 versuchen, Sänger und Regisseure für 2017 und 2018 zu kriegen. Das ist dann auf dem erforderlichen Niveau nicht mehr machbar. Umgekehrt ist es ja auch so: Wenn unser Vater nicht vorausgeplant hätte, säße dieses Jahr nicht Herr Petrenko im Graben.
Denken Sie darüber nach, was passiert, wenn Ihr Vertrag als Festspielleiterin nicht verlängert wird?
Wagner: Dann würde ich wieder mehr inszenieren.
Ja, aber: Denken Sie darüber nach? Spielt dieses Szenario eine Rolle für Sie?
Wagner: Eine Rolle spielt für mich dann etwas, wenn Fakten auf dem Tisch liegen.
Und wenn Sie verlängert werden: Was ist Ihr Plan? Was ist Ihre Vision für Bayreuth?
Wagner (überlegt): Wenn in einem Haus so wegweisende Inszenierungen auf den Weg gebracht wurden wie etwa der Chéreau-„Ring“ oder der Schlingensief-„Parsifal“, dann hat man künstlerisch richtig gelegen. Diese Vision haben wir, an solche Kunstereignisse anzuknüpfen. Wir hoffen, dass auch wir Produktionen herausbringen, die wegweisend sein werden, falls wir verlängert werden würden.
Muss man, um in Bayreuth als wegweisend zu gelten, kühner sein als anderswo?
Wagner: Man muss es nicht, aber man kann es sein. Und in der Vergangenheit haben Engagements wie die von Chéreau oder Heiner Müller zu außerordentlich wegweisenden Produktionen geführt.