Zwölf Jahre hat Carl Hegemann mit Frank Castorf an der Berliner Volksbühne zusammengearbeitet. Für die „Ring“-Generalproben ist er nach Bayreuth gekommen. „Das Rheingold“ ist schon vorbei, „Die Walküre“ läuft gerade. Wir treffen Hegemann in der zweiten Pause, um ein bisschen zu plaudern.

Herr Hegemann, Sie haben jetzt fast die Hälfte des „Rings“ gesehen. Wird das ein typischer Castorf?
Carl Hegemann: Castorf gilt ja als „Stückezertrümmerer“ – das ist immer so ein Stichwort. Man sagt, er zertrümmere die Stücke und mache damit irgendwas, das gar nichts mit dem Stück zu tun hat. Das stimmt überhaupt nicht, es ist ganz anders. Er liest die Stücke viel genauer als die meisten Regisseure. Er ist eben auch ein sehr guter Dramaturg. Das heißt, die Seltsamkeiten, die Überraschungen oder die anderen Sichtweisen kommen nicht dadurch, dass er irgendetwas darüberstülpt oder dass er sagt, ich zerschmettere das einfach. Sondern weil er so genau gelesen hat, dass er im Text, im Kontext und im Subtext Dimensionen entdeckt, die über die üblichen eingeschliffenen Sichtweisen hinausgehen und manchmal das Ganze am Ende auch von innen sprengen. Das könnte beim „Ring“ hier auch der Fall sein.

Sie haben über Castorf einmal geschrieben, er macht kein Theater. Was macht er dann?
Hegemann: Entrüstete Zuschauer haben gesagt: Das ist kein Theater mehr. Da wurde sozusagen auf der Bühne gelebt, da fanden reale Vorgänge statt. Da gab es Maschinen, die wirklich benutzt wurden, und echten Alkohol, den man bis in die fünfzehnte Reihe riechen konnte. Die Schauspieler haben ihre Rollen „missbraucht“, um etwas von sich zu erzählen. Sie haben auf das Publikum reagiert und das laufende Stück unterbrochen. Das geht in der Oper so natürlich nicht. Aber das Singen ist auch ein realer Vorgang.

Tut der Oper ein Regisseur, der vom Sprechtheater kommt, überhaupt gut?
Hegemann: Castorf kommt zwar vom Sprechtheater, aber es gibt keine Inszenierung von ihm, in dem nicht die Musik eine gewaltige Rolle spielt. Er hat schon vor vielen Jahren Opern inszeniert, zum Beispiel den „Othello“ in Basel oder die „Fledermaus“ in Hamburg. Ein guter Regisseur ist ein guter Regisseur. Wenn er unmusikalisch ist, kann er auch kein guter Sprechtheaterregisseur sein, weil die Sprache auch etwas mit Musik zu tun hat. Ob Castorf wirklich der ideale Opernregisseur ist, weiß ich nicht, aber für einen Wagner-Regisseur bringt er alles mit. Man sieht und hört auch, dass der Dirigent Kirill Petrenko und Castorf sich gut verstehen. Und mit seinen Ausstattern Aleksandar Denic und Adriana Braga Peretzki hat er vor drei Monaten in Berlin noch eine grandiose und gefeierte Inszenierung von Tschechows Roman „Das Duell“ rausgebracht.

Vor zwei Jahren hieß es, Castorf macht den „Ring“ in Bayreuth. Was haben Sie dazu gesagt?
Hegemann: Ich hab mich total gefreut. Ich dachte ja, der Zug ist schon abgefahren. Es wäre natürlich viel besser gewesen, wenn das schon fünfzehn Jahre früher passiert wäre. Die ganze Reihenfolge ist irgendwie unwahrscheinlich. Vor Schlingensief hätte erst mal Castorf hier etwas machen müssen, zumal Castorf auch der weniger performative Regisseur ist. Der ist noch am nahesten am Theater, an der Bühne und auch an der Konvention. Er bricht die Konvention nur auf, aber er zerstört sie nicht. Wohingegen solche Leute wie Schlingensief oder Einar Schleef – der in der Bayreuther Regisseurenreihe fehlt – eher rituelle Formen ausprobiert haben. Und Baumgarten versucht das Rituelle und das Narrative zu verbinden. Das ist auch interessant.

Haben Sie Castorfs Pläne zum „Ring“ verfolgt?
Hegemann: Ich habe ihn letztes Jahr, als wir den „Tannhäuser“ wieder aufgenommen haben, nur bei einer Probe getroffen. Da hat er mir das Bühnenbild gezeigt. Dann haben wir uns stundenlang in einer Raststätte unterhalten und uns erzählt, wie er es sieht und wie ich es sehe. Da gab es keine Differenzen.

Ist die Arbeit zwischen Ihnen immer so harmonisch verlaufen?
Hegemann: In den zwölf Jahren, die wir an der Volksbühne zusammengearbeitet haben, gab es inhaltlich selten Probleme. Konflikte gab es immer an der Volksbühne, aber nicht bei den Arbeiten, die ich mit ihm gemacht habe. Die waren einfach. Er hätte mich als Dramaturg gar nicht gebraucht, weil er sein eigener Dramaturg ist. Obwohl ich glaube, dass ich ihm bei einigen Produktionen damals helfen konnte. Er hört seinen Leuten gut zu, aber er ist ein Autokrat wie Wagner auch, weil er einfach immer schon einen Schritt weiter ist als man selbst. Aber mittlerweile verbindet sich das mit einer großen Toleranz und Entspanntheit. Ich kenne keinen Regisseur, der so kaltblütig und gleichzeitig so relaxed arbeitet.

Von 2004 bis 2007 haben Sie mit Christoph Schlingensief am „Parsifal“ gearbeitet, 2011 mit Sebastian Baumgarten am „Tannhäuser“. Sie haben also schon Bayreuth-Erfahrung. Haben Sie Castorf etwas geraten?
Hegemann: Ich hab ihm mehrfach geraten, er soll das unbedingt machen. Aber ich hab auch den Festspielen schon vor vielen Jahren geraten, dass sie ihn mal inszenieren lassen sollten. Ich hab allerdings nicht mehr damit gerechnet, dass das noch klappt.

Und was die Arbeit im Festspielhaus angeht?
Hegemann: Über das Festspielhaus hab ich ihm nicht viel erzählt, das muss man selber erfahren. Er hat offensichtlich hier weitgehend seinen Frieden gemacht – keine großen Eklats, keine Ultimaten und dergleichen. Das ist auch folgerichtig, denn jede Art zu sagen, ich zeig’s euch jetzt mal, hilft der Produktion nicht weiter. Das war schon bei Schlingensief so. Da haben auch alle befürchtet, der holt jetzt die Nazikeule raus und zeigt mal so richtig, was das für ein Sumpf ist. Aber er hat sich auf die Arbeit konzentriert und den „Parsifal“ als globalisiertes Ritual über das Sterben und den Tod gemacht, obwohl er damals noch nicht krank war. Er hat sich aus den Debatten über Wagner und Bayreuth weitgehend rausgehalten – außer dort, wo sie seine Arbeit direkt betrafen.

Das hört sich an, als hätte Bayreuth die beiden gebändigt. Was machen die Festspiele mit einem Regisseur?
Hegemann: Man muss Wagners musikalisches Werk und die Festspiele unterscheiden. Ich glaube, es liegt an Wagners Kunst und weniger an Bayreuth, dass man sagt, man kann da nicht einfach irgendetwas Partikulares machen. Man ist immer als Person involviert. Für einen historisch denkenden Existenzialisten wie Castorf, der die großen Romane Dostojewskis auf die Bühne gebracht hat und als Kontrast die amerikanischen Stücke von Tennessee Williams, sind das alles vertraute Themen. Die Radikalität, mit der sie bei Wagner verhandelt werden, ist ihm erst recht vertraut. Er kann das alles auf sich selbst und seine eigene Geschichte beziehen und auf die Weltgeschichte. Dadurch entsteht Unwahrscheinliches. Das ist auch eine Form der Selbstprovokation. Dass viele seiner Arbeiten polarisierend wirken, ist eine große Qualität. Sie treffen einen Nerv. Oft war es so, dass das Publikum nach der Vorstellung völlig gespalten war: Fünfzig Prozent waren absolut entsetzt, fünfzig Prozent total begeistert. Ohne dass man das soziologisch hätte erklären können. Ich bin gespannt, wie das jetzt in Bayreuth wird.

Das Gespräch führte Christina Fleischmann.

Zur Person
Carl Hegemann, 64, studierte Philosophie, Literaturwissenschaften und Soziologie und promovierte im Fach Philosophie. Ab 1979 arbeitete er als Dramaturg, unter anderem am Staatstheater Wiesbaden und bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen, als Chefdramaturg am Schauspielhaus Bochum und am Berliner Ensemble. Von 1992 bis 1995 und von 1998 bis 2006 war Hegemann am Volkstheater am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin unter der Intendanz von Frank Castorf tätig. Bei den Bayreuther Festspielen wirkte Hegemann von 2004 bis 2007 bei Christoph Schlingensiefs „Parsifal“-Inszenierung und 2011 bei Sebastian Baumgartens „Tannhäuser“ mit. Seit 2006 ist Hegemann Professor für Dramaturgie in Leipzig, seit 2011 arbeitet er als Dramaturg am Thalia-Theater in Hamburg.