Je mehr Diagnosen, desto mehr Geld?

Von Peter Rauscher und Elmar Schatz
Angeblich werden Ärzte von Krankenkassen gedrängt, mehr Diagnosen zu stellen, um mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds beanspruchen zu können. Foto: Franziska Gabbert/dpa Foto: red

Die oberfränkischen Hausärzte weisen den Vorwurf scharf zurück, dass  Patienten kränker geschrieben werden als sie sind, damit es für Krankenkassen mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds gibt. Wer erhebt diesen Vorwurf?

 
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Klaus Kinzinger (Coburg), stellvertretender Vorsitzender des Hausärzteverbandes in Oberfranken, erklärt: „Vor allem weise ich die Darstellung zurück, dass Prämien an Ärzte gezahlt werden.“

Gesetzliche Kassen wollten Ärzte dazu bringen, für Patienten möglichst viele Diagnosen zu dokumentieren; denn dann gebe es für die Kassen mehr Geld aus dem Risikostrukturausgleich, erklärt der Chef der Techniker-Krankenkasse (TK), Jens Baas: „Die Kassen zahlen zum Beispiel Prämien von zehn Euro je Fall für Ärzte, wenn sie den Patienten auf dem Papier kränker machen.“

Der oberfränkische Hausärzte-Vize Kinzinger widerspricht: „Dass jemand kränker gemacht werden sollte, habe ich nie erlebt.“ Es kämen allerdings immer mal Anfragen von Kassen, die Diagnose genauer zu fassen. Und für den Mehraufwand, den der Arzt mit einem chronisch Kranken habe, werde die höhere Chroniker-Pauschale gezahlt.

Zu den Diagnosen erklärt der Pressesprecher der AOK Bayern, Michael Leonhart, auf Anfrage: „Dabei geht es nicht um zusätzliche Einnahmen für die eine oder andere Krankenkasse.“ Leonhart: „Ohne krankheitsorientierte Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds wäre die Gesundheitsversorgung schwer erkrankter Versicherter gefährdet – auch in Bayern.“

Die AOK Bayern setze sich deshalb für ein „korrektes Kodieren von Erkrankungen ein“. Dabei gehe es darum, „das Krankheitsgeschehen im ambulanten Bereich korrekt abzubilden und auf diese Weise die finanziellen Mittel dorthin zu leiten, wo sie für die Versorgung der Kranken gebraucht werden“.

Leonhart wirft TK-Chef Baas vor, er „verfolgt offensichtlich das Ziel, das System der gerechten Mittelverteilung durch den Gesundheitsfonds schlechtzureden – in der Hoffnung, dass seine bundesweite Kasse von einer Abschaffung des Finanzausgleichs profitieren würde“.

Kliniken: Systematischer Betrug von Kassen

Baas hatte erklärt: „Es ist ein Wettbewerb zwischen den Kassen entstanden: wer es schafft, die Ärzte dazu zu bringen, für die Patienten möglichst viele Diagnosen zu dokumentieren.“ Dann würde mehr Geld aus dem Risikostrukturausgleich gezahlt. Für all das hätten die Kassen seit 2014 eine Milliarde Euro ausgegeben – Geld, das für die Behandlung der Patienten fehle.

Leonhart erklärt: „Letztlich unterstellt Baas den Ärzten, sie würden für ein höheres Honorar unethisch handeln und falsch kodieren.“

Wenn Baas kritisiere, dass „Berater für Kassen in Sachen Kodierung tätig sind, tut er dies sicherlich aus eigener langjähriger Berufserfahrung bei einem der größten Beratungsunternehmen. Die AOK Bayern jedenfalls lässt sich zum Thema Kodierung nicht beraten“.

Die kommunalen Krankenhäuser werfen Krankenkassen unterdessen systematischen Abrechnungsbetrug vor und verlangen sofortige Ermittlungen der Staatsanwaltschaft.

Offensichtlich nutzten die Kassen jährlich Beitragsmittel von mehreren Hundert Millionen Euro, „um sich ungerechtfertigte Zahlungen zu sichern“, erklärt Susann Breßlein, stellvertretende Vorsitzende des Interessenverbandes kommunaler Krankenhäuser.

Dies sei kein Kavaliersdelikt, sondern könne das Vertrauen der Versicherten in die Seriosität der Kostenträger erschüttern.

Laut TK-Chef Baas betreiben regionale Kassen diese Schummelei besonders intensiv. „Sie bekommen 2016 voraussichtlich eine Milliarde Euro mehr (über den Risikostrukturausgleich), als sie für die Versorgung ihrer Versicherten benötigen.“ Auch seine Kasse könne sich dem nicht entziehen, räumt der TK-Chef ein.

Ein Sprecher des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) schiebt den Ärzten eine Mitverantwortung zu. Die Ärzte hätten die Einführung verbindlicher Richtlinien für Diagnosen boykottiert.                                                                      Mit Material von dpa

Info: Der Risikostrukturausgleich weist einer Kasse Geld aus dem Gesundheitsfonds zu – je nach Schwere der Erkrankung des Versicherten.

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