Isolierter Mann: Warum schwieg das Dorf?

Ob Stadt oder Dorf: Sich in das Privatleben anderer Menschen einzumischen ist immer eine Hürde, sagt Soziologe Lutz Laschewski. Foto: Sebastian Gollnow/dpa Foto: red

Sie erzählten sich die Geschichte vom Dorf-Phantom, sprachen im Wirtshaus über den isoliert lebenden Mann. Zur Polizei aber ging 30 Jahre lang keiner der Bewohner des Hollfelder Ortsteils, in dem der 43-Jährige von der Außenwelt abgeschieden lebte. Warum nicht? Und ist das typisch Dorf? Fragen an Dr. Lutz Laschewski, Dozent an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus und Vorstandsmitglied der Sektion Land- und Agrarsoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

 
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Viele Menschen wussten von der Existenz des Mannes. Alarm geschlagen hat sehr lange niemand. Wie kann das sein?

Lutz Laschewski: Dieses Phänomen kennen wir aus vielen Situationen. Nehmen wir das Beispiel Verkehrsunfall: Meistens sind mehr Menschen dabei, als etwas tun. Man erklärt sich als nicht zuständig oder nicht kompetent zu helfen. Das liegt wohl in der menschlichen Natur.

Letztendlich war es ein Außenstehender, der die Polizei informiert hat.

Laschewski: Das überrascht mich nicht. Wenn ich mich in das Privatleben meines Nachbarn einmische, laufe ich Gefahr, dass er sich auch in meines einmischt. Ich will nicht der Verräter sein, habe vielleicht auch Angst, mit meiner Einschätzung daneben zu liegen. Ein Außenstehender hat es da leichter. Er muss ja im Nachhinein nicht mit dem Betroffenen Tür an Tür leben.

Neigen Dorfgemeinschaften also dazu, Geheimnisse zu hüten?

Laschewski: Das würde ich so pauschal nicht sagen. Die Hürde, sich einzumischen ist immer groß, auch in der Stadt. Womöglich ist sie auf dem Dorf aber noch größer. Die Familie gilt gerade im ländlichen Raum viel. Das macht es schwerer, sich in fremde Familienangelegenheiten einzumischen. Und dann steht das Landleben ja auch für Freiheit und Unabhängigkeit. Die Idee, anderen nicht reinzureden und sich nicht reinreden zu lassen, ist dort stark verbreitet, die Distanz zu staatlichen Institutionen größer als in der Stadt - zumal sich diese immer weiter vom Land zurückziehen.

Woran denken Sie konkret?

Laschewski: Früher hatte jedes noch so kleine Dorf seine eigene Polizeistation, seine eigene Pfarrei, sein eigenes Rathaus. Heute ist das anders. Dabei sind Polizist, Pfarrer, Bürgermeister genau die Menschen, die als Vertreter der Öffentlichkeit anerkannt sind und zu denen man sagt: Du musst dich bitte darum kümmern. So eine Person gab es in diesem Ort offenbar nicht. So hat sich keiner zuständig gefühlt.

Das Gespräch führte Marie-Christine Fischer.

 

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