Halb verhungerte Jungvögel im Tierheim

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Den Schnabel weit aufgesperrt hat ein junges Rotkehlchen, das in seinem Nest in einem Garten auf seine Mutter wartet. Foto: Frank Rumpenhorst/dpa Foto: red

Im Kulmbacher Tierheim landen halb verhungerte Jungvögel, weil ihre Eltern nicht genug Nahrung finden. Der Grund: Die Zahl der Insekten sinkt drastisch.

 
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Wer während der angenehm warmen Abende in diesem Frühling draußen auf der beleuchteten Terrasse gesessen ist, hat es vielleicht bemerkt: Die Zahl der Mücken, der Nachtfalter, ist kaum nennenswert, die das Licht umschwärmen.

Auch Autofahrern ist es vielleicht schon aufgefallen: Wo man früher zu dieser Jahreszeit immer wieder anhalten musste, um die Windschutzscheibe von Insekten zu befreien, muss man sich derzeit darum nicht sorgen. Die Scheibe bleibt weitgehend sauber.

Und auch wer nachts bei offenem Fenster schläft, hat sich womöglich schon gewundert: Selbst wenn der Fernseher läuft oder das Licht an ist, verirrt sich kaum ein Insekt in den Raum.

Zoologen sind schockiert

Das alles hat einen Besorgnis erregenden Grund: Die Zahl der Insekten wird immer geringer. Eine Studie im Auftrag des Naturschutzbundes (Nabu) hat eine erschreckende Entwicklung offenbart. Zoologen nennen sie schockierend.

Johannes Steinle von der Universität Hohenheim kommentiert: „Wir befinden uns mitten in einem Alptraum, da Insekten eine zentrale Rolle für das Funktionieren unserer Ökosysteme spielen.“

Forscher haben in 63 deutschen Naturschutzgebieten die vorhandene Zahl der Insekten untersucht. Das Ergebnis rüttelt auf: Zwischen dem Jahr 1989 und dem Jahr 2016 ist die Zahl der Fluginsekten-Biomasse um 76 Prozent, im Hochsommer sogar um bis zu 82 Prozent, zurückgegangen.

Beträchtliche Auswirkungen auf die Natur

Betroffen sind fast alle Arten: Schmetterlinge ebenso wie Bienen und Wesen, Motten und Nachtfalter wie auch alle anderen Insektenarten, die fliegen können.

Die Auswirkungen auf die Natur sind beträchtlich: Insekten sind es, die Pflanzen bestäuben. Rund 80 Prozent der Wildpflanzen vermehren sich nur mit Hilfe der Insekten.

Diese Tiere sind es auch, die die meisten Vögel ernähren. Etwa 60 Prozent aller heimischen Vogelarten dienen Insekten als Nahrung. Darum, so sieht es aus, ist es in der Region Kulmbach gerade schlecht bestellt.

Jungvögel konnten nicht gerettet werden

Weil die Insekten fehlen, verhungern Jungvögel im Nest. Im Kulmbacher Tierheim sind bereits mehrere Tiere in geschwächtem Zustand abgegeben.

Sie konnten nicht gerettet werden, bedauert Susanne Schilling, die Leiterin des Tierheims. „Bei uns landen halbflügge fast verhungerte Vögel. Das ist eine Bandbreite, die gar nicht abzusehen ist. Das gab es noch nie, so lange ich im Tierheim bin.“

Nur noch ein paar Tage hätten die Vögel gebraucht, bis sie fliegen könnten, sagt Susanne Schilling. Stattdessen seien sie dürr und schwach von Tierfreunden zu ihr gebracht worden und waren nicht mehr zu retten.

Wo sind die Schmetterlinge hin?

Susanne Schilling ist sehr nachdenklich: „Wann haben wir denn die letzten Schmetterlinge gesehen?“ Sie erinnert sich an ihre Jugend, an die Vielfalt der Arten, die es damals noch gab. Die Wiesen seien voll gewesen von unterschiedlichsten bunten Faltern. Das sei längst vorbei.

Auch Erich Schiffelholz, der Kreisgruppenvorsitzende des Landesbundes für Vogelschutz (LBV), macht sich ganz aktuell Sorgen. Allmählich tauchten zwar Insekten auf, sagt er. „Das hält sich aber heuer sehr in Grenzen. Ich habe mich auch schon gewundert, dass noch gar nicht so viele Fliegen da sind.“

Schiffelholz hat erst kürzlich eine tote Fledermaus gefunden. Spaziergänger haben ihn aufmerksam gemacht, dass auch sie mehrere verendete Tiere entdeckt hätten, berichtet er. Vielleicht, sagt Erich Schiffelholz, sind auch diese Tiere verhungert.

„Wir haben es mit einer höchst dramatischen und bedrohlichen Entwicklung zu tun“ hat Olaf Tschmipke, der Präsident des Nabu bei der Veröffentlichung der Studie im vergangenen Spätherbst erklärt.

Suche nach Schuldigen

Warum die Zahl der Insekten so drastisch zurückgegangen ist, weiß man noch nicht mit Sicherheit. Die Naturschützer haben aber die Vermutung, dass in der Landwirtschaft eingesetzte Düngemittel mindestens eine der Ursachen sein könnten.

Der Klimawandel kann es als Hauptursache nicht sein, schließen die Forscher. Durch die Erwärmung müsste es eigentlich mehr Insekten geben, nicht weniger, lautet das Argument. Nicht nur bestimmte Arten leiden unter dem Insektensterben. Praktisch alle sind betroffen, hat die Studie ergeben.

Deswegen sind die Stickstoffverbindungen, die zum großen Teil aus Düngemitteln stammen, stark im Verdacht. Aber auch die Abgase von Fahrzeugen könnten Einfluss auf das Artensterben haben.

Auch Pestiziden, vor allem Neonicotinoiden, wird eine Mitschuld unterstellt. Mit diesen Mitteln werden Pflanzen behandelt, um sie vor Insekten zu schützen.

Das Problem: Wenn eine Schnecke ein solches Pestizid frisst und anschließend von einem Käfer gefressen wird, stirbt auch der Käfer.

Kurswechsel in der Agrarpolitik

Doch was nun wirklich den erschreckenden Rückgang der Insekten bewirkt, ist unklar. So lange man das nicht weiß, kann man auch nichts Effektives tun, um den weiteren Rückgang zu verhindern.

Die Politik ist gefordert, sagt der Nabu. Er will, dass sich die Bundesregierung auf EU-Ebene für einen Kurswechsel in der Agrarpolitik starkmacht und mehr in Erforschung und Schutz der biologischen Vielfalt investiert wird.

Speziell in Bezug auf den Insektenschwund fordern die Naturschützer ein Deutsches Zentrum für Biodiversitäts-Monitoring sowie den zügigen Aufbau eines bundesweiten Insekten-Monitorings.

Als Vorbild für ein bundesweites Insekten-Monitoring könnte Nordrhein-Westfalen dienen, wo seit 2017 100 Standorte beprobt werden.

Nicht nur ein deutsches Phänomen

Langzeit-Untersuchungen aus anderen Staaten liefern laut Nabu Hinweise darauf, dass es sich nicht nur um ein deutsches Phänomen handelt. Auch von der EU offiziell bestätigte Bestandsrückgänge von Vögeln, die auf Insekten als Nahrungsgrundlage angewiesen sind, dürften zu einem wesentlichen Teil auf den Insektenschwund zurückzuführen sein.

Norbert Schäffer, Vorsitzender des LBV, macht deutlich, wie jeder Laie erkennen kann, dass es viel weniger Insekten gibt: „Nach längeren Autofahrten musste man noch vor wenigen Jahren die Scheiben wieder von Insekten säubern, was heutzutage nicht mehr der Fall ist. Auch von Insekten umschwärmte Straßenlaternen beispielsweise sind heute eher selten zu finden.“

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