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Gralshüter: Interview mit Hartmut Haenchen

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Hartmut Haenchen dirigiert den "Parsifal" bei den Festspielen 2016. Foto: Riccardo Musacchio Foto: red

Hartmut Haenchen dirigert so, wie er meint, dass Wagner es gut gefunden hätte. Klingt kompliziert, ist auch so. Mit dem Kurier sprach er über die historische Aufführungspraxis, über Bestätigung von Seiten Pierre Boulez'. Über den richtigen Ton, das optimale Tempo. Und Europas gefährdete Zukunft.

 
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Glückwunsch, Herr Haenchen. Sie haben die Festspiel-Premiere gerettet!

Haenchen: Das hoffe ich.

"Ich setze Ratschläge um oder nicht"

Als Einspringer wurden Sie vermutlich mit wohlmeinenden Ratschlägen nur so überhäuft...

Haenchen: Natürlich nehme ich Ratschläge gerne an, aber ich weiß, was ich will. Demzufolge setze ich Ratschläge entweder um oder nicht. Ich hatte im Vorfeld abgeklärt, dass alle Ratschläge bei meinem Assistenten ankommen, von dem sie mir dann aus einem Mund weitergegeben wurden.

War denn auch Hilfreiches dabei?

Haenchen: Man kann an diesem Haus ohne jemanden, der im Saal sitzt und hört, was dort ankommt, wirklich nicht arbeiten. Man braucht unbedingt einen Partner, der einem dabei hilft. Ich habe in den Proben viel mit dem Telefon unterm linken Ohr geklemmt dirigiert, um sozusagen live die Hinweise aus dem Saal zu bekommen. Der Dirigent hat hier den schlechtesten Platz. Was man im Graben hört, hat mit dem, wie es draußen klingt, überhaupt nichts zu tun. Man muss im Kopf sehr schnell umrechnen.

"Ein schöner Mittelwert"

Sie haben ja bereits an vielen Opernhäusern Wagner dirigiert. Gab es, als Sie hier in Bayreuth im Graben standen, einen Moment, in dem Sie dachten: So habe ich es mir dann doch nicht vorgestellt?

Haenchen: In diesem Graben muss man die Artikulationen deutlich kürzer nehmen als in jedem anderen Haus, weil der Nachhall deutlich länger ist. Aber das lernt man ganz schnell.

Sie haben sich ja auch intensiv mit der sogenannten historisch informierten Aufführungspraxis beschäftigt. Lassen Sie das Orchester im „Parsifal“ tiefer stimmen als üblich?

Haenchen: Nein, überhaupt nicht. Aber ich habe mich damit beschäftigt, weil es Kollegen gibt, die Wagner mit einer Stimmung von 438 Hertz spielen lassen oder sogar noch tiefer. Wenn man weiß, dass der „Tannhäuser“ in Paris zu Richard Wagners Zeiten bei 448 Hz, in Wien bei 460 Hz gespielt wurde, dann ist 443, wie wir hier spielen, ein schöner Mittelwert, der eher tiefer liegt als die meisten von Wagner geleiteten Aufführungen.

Ohne Vibrato? Das ist eine Mär

Viele Verfechter der historischen Aufführungspraxis lassen aber doch deutlich tiefer stimmen.

Haenchen: Es ist ein Irrglauben, der heute immer noch in den Köpfen herrscht, denn die Stimmung war früher in jeder Stadt anders. Es gab Städte, in denen man tiefer gespielt hat. Aber viele Musiker, die zu Wagners Zeiten in Bayreuth gespielt haben, kamen aus Meinigen. Und die Meininger Kapelle spielte höher. Man hätte damals in Bayreuth gar nicht auf 430 spielen können, weil viele Instrumente, die mit den Musikern aus Meiningen kamen, höher gestimmt waren. Auch die Stuttgarter hatten damals 440 Hz. Das ist die Logik der Sache. Und bei der Hitze im Orchestergraben wird ohnehin alles im Laufe des Abends noch höher.

Ist denn in Ihrem „Parsifal“ das Vibrato kleiner als im „Tristan“ von Christian Thielemann?

Haenchen: Ich habe in meinen Orchesterstimmen Vibratovorschriften geschrieben und wir haben in der kurzen Probenzeit auch über Größe und Art des Vibratos gesprochen. Natürlich nutze ich auch die Möglichkeiten des Non-Vibratos. Wir wissen aber auch, dass es eine Mär ist, dass zu Wagners Zeit kein Vibrato gespielt wurde. Dem widerspricht schon die Tatsache, dass Wagner im „Parsifal“ ausdrücklich Vibrato vorgeschrieben hat und zwar an Stellen, die man normalerweise in dieser Zeit Non-Vibrato gespielt hat.

Naturhörner wären falsch

Hier im Festspielhaus spielt ja ein sogenanntes modernes Orchester, in dem aber gewiss einige Musiker auf Violinen spielen, die mehr als hundert Jahre alt sind...

Haenchen: ... und trotzdem spielen die Musiker heute auf Stahlsaiten. Jetzt kommt ein entscheidender Punkt: Zu Wagners Zeiten spielten die Musiker auf Darmsaiten. Da ihm die Bratschen immer zu leise waren, hat Wagner die sogenannte Ritter-Bratsche erfunden, die viel größer ist als eine normale Bratsche, um einen lauteren Klang zu haben. Wagner hatte nicht die Möglichkeit, Stahlsaiten aufzuziehen, aber ihm war der Klang der Darmsaiten nicht genug. Meine Schlussfolgerung daraus ist, dass ich jetzt nicht unbedingt die Ritter-Bratsche spielen lassen muss, die sehr schwer zu handhaben ist, sondern ich kann eine normale Bratsche mit Stahlsaiten nehmen. Das kommt ungefähr auf denselben Klang hinaus.

Aber dann müssen Sie die Violinen entsprechend dämpfen ...

Haenchen: Das ist auch eine Besetzungsfrage. Wenn sie eine Bratsche mit Darmsaiten nehmen, hat sie von sich aus einen viel gedämpfteren Klang als eine Violine mit Darmsaiten. Insofern gleicht sich das ziemlich aus. Ich sträube mich gerade bei Wagner ein bisschen, die Instrumente zu nehmen, die er zur Verfügung hatte. Denn er war mit diesen Instrumenten nicht zufrieden. Es wäre also vollständig kontraproduktiv, Wagner das wieder unterzuschieben, was er nicht wollte. Das wäre zwar historisch korrekt, aber diese Instrumente waren ihm nicht gut genug.

Richard Wagner wäre also vom heutigen Orchesterklang mehr angetan als von seinem eigenen.

Haenchen: Ja. Das kann man auch an den Hörnern zeigen. Wagner hatte in Dresden vom König soviel Geld gekriegt, dass er von den gerade erfundenen Ventilhörnern zwei kaufen konnte. Er brauchte aber vier. Er hat dann zwei Ventil- und zwei Naturhörnern genommen. Wagner liebte den Klang des Naturhorns mehr, aber der Vorteil der sauberen Chromatik gab ihm die Möglichkeit, vollständig anders zu schreiben. Er hat das Klangliche seinen kompositorischen Ideen geopfert. Es wäre vollständig falsch, das jetzt wieder zurückdrängen zu wollen und wieder Naturhörner einzusetzen.

"Richard Wagner war nicht unbedingt der Gralshüter"

Das heißt, wer bei Wagner zurück zum Originalklang will, muss die Perspektive des Komponisten einnehmen und von dort aus den Blick in die Zukunft richten.

Haenchen: Es gibt ja viele Elemente, die ich versuche historisch informiert zu machen: Die Vibratofrage oder die Frage der Ausgaben. Die Ausgaben, aus denen in Bayreuth gespielt wurde, sind die Erstdrucke. Damals war es aber technisch nicht möglich, die Unterschiede zwischen Punkt und Keil beim Staccato, die Wagner angab, zu drucken. Also die Unterschiede zwischen leichtem und markiertem Staccato. Dieser Unterschied steht nicht in den Stimmen. Für das Orchester war das nun ein vollständige Neuigkeit, plötzlich ein Material zu haben, in dem dieser Unterschied drinsteht und von mir auch abgefragt wurde. Das ergibt vollständig andere Klangbilder, die aber historisch richtig sind. Ein anderes Thema ist die Bogenführung der Streicher. Die modernen Orchester haben ja gelernt, dass die Musiker alle gleichzeitig den Strich wechseln. Allerdings sind Wagners originale Bögen oftmals viel länger. Hier habe ich durch eine unterschiedliche Bogenführung, indem ich die Streicher in Gruppen eingeteilt habe, die ursprüngliche Absicht des Komponisten wiederhergestellt.

Was gibt es noch für Unterschiede zwischen Ihrer Ausgabe und der üblicherweise gespielten?

Haenchen: Es sind ein paar tausend Einzeichnungen. Ich dirigiere nicht nach dem Autograph, sondern nach dem letzten überlieferten Stand von Wagner. Die Uraufführungspartitur liegt ja in Bayreuth. Sie ist ganz wichtig für mich. Zu der Uraufführungspartitur kommen dann für mich die Klavierauszüge der Sänger – wir haben noch die originalen Klavierauszüge von Parsifal und Kundry – hinzu, mit den Einzeichnungen, die die Sänger in den Proben mit Wagner gemacht haben. Und schließlich die Probenanweisungen Wagners, die die Assistenten aufgeschrieben haben und zum Teil der Partitur widersprechen. Diesen letztwilligen Stand von Wagners Absicht habe ich genommen, um das Aufführungsmaterial anzufertigen. So habe ich das bei sämtlichen Wagner-Opern und auch bei allen Sinfonien von Bruckner oder Brahms gemacht. Bei allen Werken arbeite ich grundsätzlich mit eigenem Material.

Sie sprechen von mehr als tausend Änderungen. Jetzt muss man sich mal eines klar machen: Da muss erst Andris Nelsons hinschmeißen und Sie müssen aus ihrem Urlaub geholt werden, damit klar wird, dass ausgerechnet am Uraufführungsort des sogenannten Bühnenweihfestspiels seit Generationen falsches Notenmaterial verwendet wird. Hat hier das Bayreuther Gralshütertum versagt?

Haenchen: Das Gralshütertum ist hier in vielen Dingen, nicht nur in Fragen des Orchestermaterials, so, dass nicht unbedingt Richard Wagner den Gral gehütet hat, sondern Cosima. Da sind dann auch Dinge dazu gekommen. Nehmen sie die berühmten Gralsglocken, von denen man immer sagt, das seien die originalen Gralsglocken. Nein, das sind nicht die originalen Gralsglocken. Wenn man nachliest, was er am 12. Juli 1882 an Edward Dannreuther telegrafierte „A Kingdom for a Tamtam! Mit richtigem C-Diapason“, wird deutlich, was Wagner für einen Klang wollte, dann ist eben der Klavierklang falsch. Das muss man sich einfach bewusst machen. Steingraeber hat ja jetzt ein neues Instrument entwickelt, das durchaus interessant ist, und ich habe auch darüber nachgedacht, das unterzubringen. Aber wir haben es einfach nicht in den Orchestergraben gebracht. Da muss man mal schauen, ob es im nächsten Jahr verwendbar ist. Ich bin mit den elektronischen Lösungen nie glücklich, weil dies bei Wagner für mich ein Fremdkörper ist. Das versuche ich zu vermeiden. Allerdings habe ich jetzt auch eine elektronische Lösung für die Gralsglocken, die mich nicht glücklich macht. Aber sie kommt in der Klangvorstellung dem was Wagner wollte, eigentlich am Nächsten.

"Ein fantastisches Orchester"

Wie haben die Musiker auf das neue Notenmaterial reagiert?

Haenchen: Es ist spannend mit einem so fantastischen Orchester wie hier in kürzester Zeit auch Ungewöhnliches zu machen. Mir hat ein Orchestermusiker gesagt, wir können gar nicht aufnehmen, was Sie dirigieren, weil wir mit Notenlesen beschäftigt sind. Da hat er natürlich Recht. Ich habe dann noch einmal ernsthaft gezweifelt, ob ich darauf bestehen soll. Was überwiegt an Vor- und Nachteilen? Dann habe ich aber gesehen, dass ich nicht im Entferntesten das erreichen kann, was ich erreichen will, wenn ich das hier gespielte Traditionsmaterial nehme.

Sie haben sich durchgesetzt.

Haenchen: Wenn ich ein bisschen mehr Zeit gehabt hätte, hätte ich den Musikern gerne erklärt, warum ich das so mache. Aber die Zeit hatte ich nicht. Wenn ein Musiker versteht, warum er etwas machen soll, das für ihn ungewöhnlich ist, dann kann er das ganz anders spielen, als wenn ich ihm das nur hinlege und sage: Mach mal! Da verstehe ich jedes Gefühl: Dass sich das ungewöhnlich oder sogar schlecht anfühlt.

"Parsifal bleibt Parsifal"

Hat sich denn Christian Thielemann in seiner Funktion als Musikdirektor Ihnen gegenüber zu Ihren Änderungen geäußert?

Haenchen: Nein. Wir haben Kontakt, wir haben die Garderoben nebeneinander. Aber über solche Details haben wir nicht gesprochen. Wir haben uns über die grundsätzliche Problematik des Hauses ausgetauscht und man hat mir gesagt, dass er auch in einigen meiner Proben gewesen ist. Ich selbst habe das ja nicht gesehen.

Nennen sie bitte eine Stelle, an der bislang falsche Noten gespielt wurden.

Haenchen: Es gibt diese Stelle in dritten Akt. Die falschen Noten fallen ja nicht auf, wenn alle aus meinem Material spielen. Da haben die Posaunen mich aber gebeten, die alte Fassung zu spielen, weil dort Stichnoten drin sind, die sie unbedingt für ihren Einsatz brauchen. Das habe ich sie auch machen lassen. Und plötzlich kommt eine Stelle, wo die Posaunen „cis“ spielen und die Bratschen „c“. Da habe ich gefragt, was passiert hier. Da sagte mir der Solo-Bratscher: Wir haben hier immer „cis“ gespielt. Da fing ich natürlich an zu zweifeln. Ich habe mir diese Stelle dann im Archiv angeguckt. Es ist definitiv „c“. Die Erklärung für die Verwirrung war einfach: Im Rubinstein-Klavierauszug steht da ein „cis“. Rubinstein war offensichtlich der Harmonische Wechsel zu kühn. Aber ob „c“ oder „cis“. „Parsifal“ bleibt „Parsifal“. Wir sollten das auch nicht überbewerten.

Sie haben in ihrem Buch „Werktreue und Interpretation“ über den „Parsifal“ geschrieben“: „Die Tendenz zum Zelebrieren des Werkes hat erst später eingesetzt und gab ihm damit sicherlich einen falschen Aspekt“. Kann man sagen, Pierre Boulez war sehr nahe am Original?

"Ein wenig schneller als Levi"

Haenchen: Absolut.

Man kann also bei Boulez in Bezug auf das Tempo von historischer Aufführungspraxis sprechen.

Haenchen: Boulez hatte ja sogar die Uraufführungszeiten deutlich unterboten. Im Verhältnis zu dem, wie Toscanini die Uraufführungszeiten überschritten hatte, allerdings in sehr geringem Maß. Ich liege mit meinen Bayreuther Aufführungszeiten auf den Wünschen von Wagner. Ich bin ein wenig schneller als Hermann Levi in der Uraufführung.

Hat Sie Pierre Boulez beeinflusst?

Haenchen: Boulez hat mich bestätigt. Es ist nicht so, dass ich vollständig neue Erkenntnisse durch Boulez bekommen hatte, aber er war die Bestätigung dessen, was ich für mich schon studiert hatte. Und das ist für einen jungen Dirigenten, der plötzlich gegen eine ganze Front von Aufführungspraxis steht, schon besonders.

"Eine Gesellschaft kann sich nur durch die eigene Tat erhalten"

Nur mal angenommen, Sie hätten damals den sogenannten Jahrhundert-„Ring“ dirigiert...

Haenchen: ... dann hätte ich die Buhs gekriegt, die Boulez gekriegt hat. Ich war ja damals Hospitant bei Boulez.

Sie sagten einst: „Dirigieren ist für mich immer eine gesellschaftliche Aufgabe.“ Was heißt das für Ihr Engagement in Bayreuth?

Haenchen: In dem Fall geht es um die Aussage des „Parsifal“, der für mich diese Essenz enthält: Eine Gesellschaft, die sich Regeln gibt, die sie nicht einhalten kann, muss daran zu Grunde gehen.

Das ist ja hochaktuell.

Haenchen: Ja eben. Das Stück führt vor, dass solch eine Gesellschaft zugrunde gehen muss. Der Speer im „Parsifal“ steht für die Tat. Das ist ganz wichtig. Wenn eine Gesellschaft tatenlos wird wie die Gralsgesellschaft und sich gleichsam nur noch künstlich ernährt – nämlich durch Zwang, durch das Leid, das einem anderen zugefügt wird – wird sie untergehen. Sie kann sich nur durch die eigene Tat erhalten, dies kann nicht von außen geschehen.

Am Ende ein klein bisschen Hoffnung

Wird es Ihnen da nicht Angst und Bange, wenn sie an Europa denken.

Haenchen: Ja. Wenn es nicht gelingt, dass Europa sich auf die Kultur besinnt, wird Europa als Europa zugrunde gehen.

Dann werden wir die „Götterdämmerung“ noch ganz real erleben.

Haenchen: Ja.

Der Wagnerianer ist dabei im Vorteil.

Haenchen: Der Wagnerianer ist klar im Vorteil, wobei er sich dann immer noch darauf berufen kann, dass am Ende der „Götterdämmerung“ das Liebes-/Erlösungsmotiv kommt. Mit einem ganz kleinen bisschen Hoffnung.

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