Im Umkehrschluss werden die reinen Orchesterstellen wahre Meisterwerke - die großen, etwa der Trauermarsch, die ersten Takte des Vorspiels, die „Rheinfahrt“ oder der Schluss; aber auch jene, die manchmal nur als Übergang verstanden werden und die man gar nicht unbedingt mehr im Kopf hat: das Hörner-Solo zu Beginn des dritten Aufzugs, das kurze, trügerische Liebesglück zwischen Siegfried und Gutrune, da ist immer - wie schon beim Cello-Solo in der „Walküre“ - die unbedingte Bereitschaft zum Schwelgen. Als wollte er, wäre er nicht viel zu sehr Profi, damit sagen: So lange hab ich warten müssen bis Bayreuth, jetzt darf ich bitte auch.
Die spannenden Entwicklungen beschränken sich aber auf die Musik. Der gut abgehangene Regie-Kniff, zur Handlung noch mindestens eine ironische Alternative anzubieten, im einzigen Opernhaus der Welt, das auf vollkommenes Versinken der Zuschauer im Bühnengeschehen hin konstruiert ist: dieser Kniff funktionierte bei der Wiederaufnahmepremiere der „Götterdämmerung“ 2016 weder schlechter noch besser als in den Vorjahren. Die Nornen opfern ein Huhn, Siegfried tritt einen Penner zusammen, dann nimmt er sich die Rheintöchter einzeln vor, der tote Hagen treibt auf dem Floß über den Fichtelsee, Brünnhilde geht am Ende nach hinten von der Bühne ab, vorher hat sie den Bühnenboden mit Benzin übergossen, aber der entscheidende Funken fehlt.
Und er fehlt auch im übertragenen Sinn, auch noch im vierten Jahr, die unfassbar vielen Ideen und Zitate und Aktionismen auf der Bühne können darüber nicht hinwegtäuschen, die Probleme der Vorjahre hat Frank Castorf jetzt einfach mit neuem Ensemble wieder eingeprobt, bis hin zu dem liebevollen, aber wohl nicht gewollten Detail, dass sich die unvermeidliche Videoleinwand beim Herunterfahren jedes, wirklich jedes Mal an der Brandmauer verhakt und kurz gelupft werden muss. Vor den Schlussvorhang wollte Castorf diesmal auch gar nicht mehr treten, denn auch die Reaktionen wären wohl unverändert ausgefallen: die einen mögen’s, die anderen nicht. Kann man so machen, ist aber - mit diesem Gefühl kommt man aus der Aufführung - eigentlich total egal.
Die Sänger, die nicht neu eingewechselt wurden - Allison Oakes als Gutrune und Catherine Foster als Brünnhilde - haben die Chance erkannt, die in dieser Art von Regieführung für sie liegt. Allison Oakes lässt sich schauspielerisch voll auf die Castorf-Ästhetik ein, was die Brillanz der überschaubaren Gesangspartie nicht schmälert. Catherine Foster entwickelte sich seit dem ersten Jahr unterdessen immer weiter zu einer vollkommen in sich selbst ruhenden, stimmlich strahlenden Brünnhilde - und darstellerisch immer weiter heraus aus der Welt, die da auf der Bühne stattfindet. Das kommt der Inszenierung, in der ja ausdrücklich alles möglich ist, ebenso zunutze wie der Figur, die so in manchen Momenten auf gute Art entrückt wirkt. Weil sie eben keine postdramatische, sondern eine hochdramatische Brünnhilde ist, aber in der Stimme nicht nur Kraft, sondern auch Wärme hat, neben dem stimmlich sehr angestrengten Stefan Vinke als Siegfried fast schon liebevoll-mütterlich denn leidenschaftlich-liebend wirkend. Im vierten Jahr dieses „Rings“ jedenfalls hat sie die Spitzenform erreicht. Es gibt noch Karten für dieses Jahr, im Übrigen.
Als Hagen sprang für den erkrankten Stephen Milling der fabelhafte Albert Pesendorfer ein. Albert Dohmen war Alberich, Markus Eiche ein hervorragender Gunter, Marina Prudenskaya gab ihr Bayreuth-Debüt als Waltraute. Wiebke Lehmkuhl, Stephanie Houtzeel und Christiane Kohl sangen, bestens abgestimmt, die Nornen.
Das letzte Wort bekommt die Musik, die berühmten sieben Schlusstakte der „Götterdämmerung“ waren bei Kirill Petrenko kunstvoll in den bombastischen, leiser werdenden Bläser-Schlussakkord hineingewebt. Bei Marek Janowski stehen sie unverbunden und frei, wollen nicht davonfliegen, wollen die vier „Ring“-Opern auch nicht im letzten Moment voller Pathos auf den Punkt bringen. Sondern fügen einfach einen letzten, schönen, extra aufgesparten Gedanken hinzu. Als Schlusspointe.
Und das war’s.
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