Gesundheit ist Definitionssache

Von Andrea Pauly

Wenn Benjamin Schiller mit seinem Mustang mit satt blubberndem Motorengeräusch auf einen Behinderten-Parkplatz fährt, erntet er so manches Mal empörte Blicke und lehrerhaftes Kopfschütteln von anderen Autofahrern. Er weiß genau, was sie denken:  "Wieder so ein Proll, der denkt, er darf alles". Das ändert sich sofort, wenn er aussteigt und seinen Rollstuhl aus dem Kofferraum holt.

 
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Benjamin Schiller aus Bayreuth ist einer der Menschen, die beweisen: Der Spruch "Hauptsache gesund" muss differenziert gesehen werden. Denn er ist nicht gesund, jedenfalls nicht nach den üblichen Maßstäben. Er kam mit einer Fehlsteuerung eines Muskels im Fuß zur Welt, die zu einer Verformung der Knochen und Gelenke in seinen Beinen geführt hat. Er kann kurze Strecken laufen, darf es aber nicht übertreiben: Denn dann bekommt er Probleme mit den Gelenken. Weil er nicht weiß, wie es sich anders anfühlt, hat er das Gefühl, ganz normal zu gehen. "Wenn ich am Spiegel vorbeilaufe, erschrecke ich mich manchmal, wie das aussieht", sagt er.

Man ist nicht behindert, man wird es

Der 32-Jährige ist trotzdem ein positiver Mensch. Er hat immer einen Spruch auf den Lippen, ist auf Partys, in der Disco oder in der Kneipe immer mittendrin. Denn er fühlt sich nicht krank. Seine Einschränkung spürt er nur, weil es den Vergleich mit Nicht-Behinderten gibt. "Gesundheit ist eine Definitionssache", sagt er gelassen. Er habe nichts davon, einen Marathonläufer zu beneiden. "Was bringt mir das? Es geht mir schlecht. Dann gucke ich lieber, was ich kann."

Autofahren und Gleitschirmfliegen

Und es gibt wenig, was er nicht kann: "Man kann heute so viel ausgleichen", sagt er. Zum Autofahren reicht ein Bauteil für hundert Euro, damit er mit dem linken Fuß Gas geben kann. Und weil er Treppen und ein paar Meter laufen kann, ist Barrierefreiheit für ihn nicht ganz so wichtig wie für andere Rolli-Fahrer. "Die Barrieren sind nur noch in den Köpfen. Ich könnte sogar Gleitschirmfliegen."

Einfach fragen!

"Die Leute stellen es sich viel schwieriger vor, als es für mich ist. Manche Sachen sind für mich vielleicht schwieriger, aber es für mich ja normal, ich kenne es ja nicht anders." Immer wieder erlebt er, dass Menschen sich nicht trauen, ihm Fragen zu stellen, die sie aber offensichtlich beschäftigen. "Wenn es jemanden wirklich interessiert, wie ich Sachen mache oder wie es mir geht: einfach fragen! Man kann ja nichts wissen, wenn man nie fragt."

Die Beine schwach, der Oberkörper umso stärker

Weil seine Beine seine schwache Stelle sind, trainiert er eben seinen Oberkörper. Zwei- bis dreimal pro Woche ist er im Fitnessstudio, auch zuhause hat er Hanteln und Gewichte. "Das ist ein Ausgleich. Man muss sich was suchen, was man kann, um auszugleichen was man nicht kann." Allerdings macht er das ziemlich ambitioniert. "Vielleicht erwarte ich manchmal von mir selbst, noch eine Schippe extra draufzulegen", sagt er. "Es gibt den inneren Antrieb zu beweisen, dass man mindestens so gut ist wie alle anderen, wenn nicht sogar besser. Manchmal muss ich Sachen ausprobieren, gerade weil andere sagen, das geht doch nicht."

Wenn man Negatives erwartet - wie soll man glücklich sein?

Der 32-Jährige kann Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind wie er und darüber meckern, nicht verstehen: "Ich bin grundsätzlich positiv. Wenn man von Anfang an immer nur Negatives erwartet und immer skeptisch ist, was andere denken - wie soll man da glücklich sein?"

Kinder sind grausam

Allerdings war das nicht immer so. In der Schule war seine Behinderung ein großes Thema. Er musste einstecken, hatte wenige Freunde. "Kinder sind grausam." Erst im Lauf der Zeit ließ das nach. "Je weiter ich in der Schule kam, je höher der Bildungsgrad war, desto mehr spielt es eine Rolle wer du bist und desto weniger spielt das Körperliche eine Rolle. Es wurde zunehmend egaler."

Freunde machen glücklich

"Mit der wachsenden Anzahl der Menschen, die mir gespiegelt haben, dass es keine Rolle spielt, wurde ich glücklicher und fröhlicher." Aber es war schwierig, Menschen zu finden, denen seine körperliche Andersheit egal war - abgesehen von seiner Familie. "Die haben mich einfach immer normal behandelt." Bis heute sind es seine Freunde, die Beni glücklich machen. "Ich brauche andere Menschen zum Glücklichsein, vielleicht gerade weil ich das in der Kindheit nicht hatte. Dann legt man mehr Wert drauf und schätzt jeden umso mehr."  Glücklich macht ihn auch seine Katze, "weil sie mein Ruhepol ist, egal wie viel Stress und Ärger ich habe."

"Ich kann unglaublich bescheuert sein"

Er hat sich fest vorgenommen, sein "inneres Kind" zu erhalten. "Man kann nicht immer nur ernst sein, man muss auch mal unbekümmert sein. Ich kann unglaublich bescheuert sein", sagt er grinsend.  Aber auch gedanklich braucht er einen Ausgleich. Wenn ihn etwas beschäftigt, schreibt er darüber. "Das war schon immer so: Es muss raus, sonst kreist es im Kopf. Und man will nicht immer alles erzählen."

Ohne Rolli geht es nicht

Benjamin ärgert sich nicht, wenn sich wieder einer aufplustert, wenn er mit seinem Mustang auf den Behindertenparkplatz fährt. Er nimmt es mit Humor. "Wenn ich aussteige, guckt der andere an mir runter und die Farbe weicht ihm aus dem Gesicht. Das ist unbezahlbar." Nur wenn die Leute ihn blöd anmachen, dann sagt er den "Freizeitparkwächtern" auch schon mal, dass sie vielleicht erst mal abwarten könnten, bevor sie voreilige Schlüsse ziehen. Denn auch, wenn er ein paar Meter laufen kann: Ohne seinen Rollstuhl geht es eben doch nicht.

Zur Person:

Benjamin Schiller ist 32 Jahre alt und in Leipzig geboren und aufgewachsen. Nach dem Studium der Verwaltungswissenschaften trat er eine Stelle in der Personalabteilung der Bundespolizei in Bayreuth an.

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