Der erste Nachkriegs-Oberbürgermeister Kulmbachs war einer der Väter der bayerischen Verfassung Georg Hagen stand für Demokratie in Bayern

Von Wolfgang Schoberth
Georg Hagen in seiner Wohnung. Foto: Gudrun Hagen Foto: red

Die Bayerische Verfassung wird 70. Einer ihrer Väter ist der Sozialdemokrat Georg Hagen aus Kulmbach. Er machte die Erfahrung von Willkür, Unterdrückung und Gewaltherrschaft während des Nazi-Regimes.Nach dem Ende des Krieges arbeitete Hagen im Beratenden Ausschuss der Bayerischen Verfassung mit. Was Hagen erlebt hatte, sollte nie wieder geschehen.

 
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Wie mag einer fühlen, der am 26. Februar 1946 die Marmortreppen im Lichthof der Münchner Universität hochsteigt und an der Stelle vorbei kommt, an der fast auf den Tag genau drei Jahre zuvor Hans und Sophie Scholl Flugblättern der „Weißen Rose“ ausgelegt haben – jene Studenten, die von der Gestapo aufgespürt, vom Volksgerichtshof verurteilt und in Stadelheim bestialisch ermordet wurden?

Vom Bombenhagel verschont

Dann sitzt er, nur ein paar Schritte weiter, in der Großen Aula der Universität. Der einzige Festsaal Münchens, der den Bombenhagel unbeschadet überstanden hat. Vorne im Rundbogen ein prächtige Jugendstilmosaik von 1906. Es zeigt Apoll auf vier Rossen, begleitet von den Musen. Das Bild steht für das, was zwölf Jahre lang in den Dreck gezogen worden ist: die Gelehrsamkeit Bayerns, seine Kunstsinnigkeit und Liberalität.

Der 58 Jahre alte Georg Hagen ist eines der 128 Mitglieder des Beratenden Ausschusses der Bayerischen Verfassung, der zu einer ersten Arbeitstagung in der Aula zusammenkommt. Die Idee für dieses „Vorparlament“ stammt von Wilhelm Hoegner, der von den Amerikanern zum Bayerischen Ministerpräsidenten ernannt worden ist. Es sind keine gewählten Abgeordneten, sondern geeignete Männer und eine Handvoll Frauen, die von den Parteien ernannt worden sind. Was sie verbindet, sind Verfolgungen, schlimme Kriegserfahrungen und Verluste. Nicht wenige waren aktiv am Widerstand gegen die NS-Diktatur beteiligt, haben Verhöre, „Schutzhaft“ und KZs erlebt.

Hagen hatte Leidenschaft und Augenmaß zugleich

Einer, der die Zeit leidvoll erlebt hat, ist Georg Hagen. Aus einer einfachen, sozialdemokratisch geprägten Gerberfamilie stammend, ergreift Hagen einen typischen Aufsteigerberuf: er wird Lehrer. Ab 1910 unterrichtet er in der Oberen Schule, danach an der Berufsschule und am Lyzeum, dem heutigen Caspar-Vischer-Gymnasium. Parallel dazu engagiert er sich für SPD. Hagen hat das, was der Soziologe Max Weber für einen erfolgreichen Berufspolitiker nennt: „Leidenschaft und Augenmaß zugleich“. 1919 sitzt er erstmals im Stadtrat, Kreistags- und Bezirkstagsmandate kommen hinzu, im April 1932 wird er in den Landtag gewählt. Doch Hagen ist kein Karrierist und Duckmäuser. „Wer Hitler wählt, wählt den Tod!“ reizt er die in Kulmbach immer massiver auftretenden NSDAP-Anhänger. In einer öffentlichen Rede nennt er die Hakenkreuzfahne eine „Mörder-‑ und Schurkenfahne“.

Auf der Säuberungsliste

Als prominenter „Roter“ steht Hagen nach der Machtübernahme Hitlers ganz oben auf der Säuberungsliste. Dreimal wird er von Gestapo verhört und dauerhaft observiert. Indem er 1934 die regionale Agentur der Allianz-Versicherung übernimmt, gelingt ihm eine geschickte Überlebensstrategie. Eine wichtige Rolle spielt auch der Umstand, dass seine drei Söhne Theodor, Siegfried und Friedrich als Offiziere bei der Wehrmacht dienen. Alle drei werden ihr Leben fürs Vaterland lassen, in einem von Hitler entfachten Krieg.

Angegriffene Gesundheit

Trotz dieser schweren Schicksalsschläge und angegriffener Gesundheit versinkt Georg Hagen nicht in Depression. Mit Pflichtbewusstsein, Zähigkeit und eiserner Disziplin möchte er nach Kriegsende seinen Beitrag leisten für einen demokratischen Wiederaufbau. „Nein! Kulmbach lässt sich nicht unterkriegen!“, lautet sein Leitspruch. Ihm kommt zustatten, dass an seiner Seite eine Riege von SPD-Männern steht – Fritz Schönauer, Max Hundt, Otto Mohrmann, Andreas Stöber, die weit dynamischer und öffentlichkeitswirksamer antritt als Heinrich Weiskopf von der CSU oder Karl Jung von der FDP.

Dass Hagen, der im Mai 1945 von den Amerikanern als Erster Bürgermeister von Kulmbach eingesetzt worden ist, zur Beratung einer Verfassung nach München berufen wird, wundert nicht. Ebenso wenig, dass er am 30. Juni 1946 bei der Wahl der Verfassungsgebenden Landesversammlung auch gewählt wird – als einer der 51 SPDler, die in das 180 Sitze starke Gremium einrücken. Wiederum dient die Großen Aula der Universität als Tagungsort.

An der Seite Wilhelm Hoegners

Hagen unterstützt die Linie Wilhelm Hoegners, der während seines Schweizer Exils in den Kriegsjahren Grundpositionen festgeklopft hat: Sie setzen auf größtmögliche bayerische Eigenstaatlichkeit, Sozialpflichtigkeit des Eigentums und Mitbestimmung der Arbeitnehmer. Frauen sollen den Männern in Wirtschaft und Gesellschaft gleichgestellt werden. Ein Mindestlohn soll in der Verfassung verankert werden.

Zentrales Anliegen ist Hoegner die Beteiligung der Bürger. Er möchte sie durch Selbstverwaltung der Gemeinden und durch Volksentscheide erreichen. Die Natur soll einen eigenen Verfassungsrang erhalten, sie soll geschützt werden und ein freie Zugang Jedermann garantiert.

Die SPD erlebt bei denLandtagswahlen ein Fiasko

Ein Großteil von Hoegners Vorstellungen geht in die nach drei Monaten verabschiedete Fassung (26. Oktober) ein, wodurch ihm der Name „Vater der Bayerischen Verfassung“ nicht zu Unrecht gegeben wird. Bei den Wählern wird die SPD-Handschrift bei dem Volksentscheid am 1. Dezember 1946 nicht unbedingt honoriert: Zwar stimmen über 70 Prozent für die neue Verfassung, doch bei den zugleich stattfindenden Landtagswahlen gewinnt die CSU 104 der 180 Sitze, während die SPD mit nur 54 Sitzen ein Fiasko erlebt.

Einen davon holt Georg Hagen (SPD in Kulmbach: 58,7 Prozent), der zugleich zum Vizepräsidenten des Bayerischen Landtags gewählt wird. Mit vielen seiner Verfassungsmitstreiter, Parteifreunde oder politische Gegnern, bleibt er eng verbunden: Alois Hundhammer, dem späteren Landtagspräsidenten und Kultusminister, oder Hans Ehard, der statt des erhofften Hoegner Ministerpräsident wird.

Wähler hielten selbst dem toten Hagen die Treue

Er wird sich nach dem Tod Hagens am 25. November 1958 in den endlosen Trauerzug einreihen und ihn als Mitgestalter der Bayerischen Verfassung nennen und seine „strenge Unparteilichkeit, Gewissenhaftigkeit und gewandte Geschäftsführung“ als vorbildlich für die parlamentarische Arbeit bezeichnen.

Am 18. November 1958 starb Georg Hagens überraschend nach einer Magenoperation in München. Daraufhin trat zum ersten Mal in der parlamentarischen Geschichte Bayerns der Fall ein, dass bei den fünf Tage später angesetzten Landtagswahlen ein Verstorbener kandidierte. Die SPD hatte aufgrund der im Wahlgesetz fixierten Bestimmungen keine Möglichkeit mehr, einen neuen Stimmkreisbewerber zu nominieren. Doch die Wählerinnen und Wähler, so schrieb eine Lokalzeitung damals, „hielten selbst dem toten Georg Hagen die Treue und verhalfen der SPD zu einem klaren Wahlsieg.“

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